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Zweck

Nicht nur die Möglichkeit der Sprachentwicklung. Der Satz gilt für die Psychologie des Einzelnen wie für die Völkerpsychologie. Der Einzelne könnte seine Muttersprache gar nicht fließend sprechen, er müßte stocken und verstummen, wenn ihm der Bedeutungswandel jedes Wortes in jedem Augenblick voll zum Bewußtsein käme. Der Einzelne ist schon ein Sprachgewaltiger oder ein Dichter, wenn ihm nur die Gefühlswerte der Worte, die aus ihrer Geschichte stammen, immer gegenwärtig sind. Wer als Redner oder Improvisator glänzen will, der darf sich nicht um die Prägnanz der Worte und nicht um ihre Gefühlswerte kümmern, er muß sie gedankenlos verwenden. Wenn ich einen Vortrag über den Darwinismus halten wollte und darüber, daß Darwin angeblich die Teleologie oder die Zwecklehre aus der Welt geschafft habe, so würde ich beim ersten Vorkommen des Wortes "Zweck" (um ein treffliches Beispiel Karl Otto Erdmanns fortzuführen) durch die Überfülle der Beziehungen zum Stocken gebracht werden. "Zweck" als Endursache einer Handlung, und "Zweck" als Stiefelnagel oder Schuhzweck ist nicht nur dem Klange nach dasselbe Wort. "Zweck" bedeutet ursprünglich einen Holznagel oder einen Holzpflock, also auch den Holzpflock in der Mitte der Zielscheibe. So noch im Mittelhochdeutschen. Ich habe das Wort "Pflöckchen" im Sinne von Zielpunkt noch bei Thomasius gefunden. Das französische but hat den gleichen Bedeutungswandel durchgemacht; es kommt vielleicht mit dem italienischen bozza, dem Buckel im Schilde, vom deutschen "Butze". telos in Teleologie ist durch einen anderen Zufall des Bedeutungswandels aus einer konkreteren Bedeutung zu der des Zieles und der Vollendung, des Erfolges, des Sieges gekommen. Zweck und telos, Zwecklehre und Teleologie werden also zwar als synonyme Ausdrücke gebraucht, decken einander aber nicht genau. Im deutschen Worte liegt mehr Absichtlichkeit eines handelnden Menschen als im griechischen. Und beide Worte haben den Nebensinn nicht immer gehabt, den wir verächtlich in sie hineinlegen, seitdem wir diesen Nebensinn bekämpfen. Darwin selbst gebraucht die gleichen Begriffe mitunter und glaubt dabei den Nebensinn vermeiden zu können. Müßte ich nicht erst Darwins Sprachgebrauch in diesem Falle analysieren, den gemeinen Sprachgebrauch definieren und meinen eigenen Sprachgebrauch erklären, bevor ich ein Recht hätte, das Wort Zweck in diesem Zusammenhange zu gebrauchen? Das wäre ein langes Nachdenken bis zum nächsten Worte.

Wie in diesem Falle, so müßte in unzähligen anderen gerade der kenntnisreiche und denkende Mensch auf die Rede verzichten, weil er den Wald vor lauter Bäumen nicht sähe und den Baum nicht vor lauter Pflanzenphysiologie. Und wie der Einzelne beim Gebrauche der Sprachworte von allen Tätigkeiten seines Gedächtnisses keine so sehr eingeübt hat wie die des Vergessens, so war auf dem Felde der Völkerpsychologie die Entwicklung der Sprache nur dadurch möglich, daß auch zwischen den Menschen die alte Bedeutung des Wortes der neuen Platz machte, also in unzähligen Fällen einfach vergessen wurde. Der kenntnisreiche und denkende Mensch hat jetzt wieder die Geschichte des Wortes Zweck beisammen in seinem Einzelgehirn und muß diese Geschichte beim banalen Gebrauch des Wortes individuell vergessen; entstanden ist aber diese Wortgeschichte der Gemeinsprache zwischen den Menschen durch etappenweises Vergessen jedes einzelnen Entwicklungsgliedes. Das gilt für die konkretesten Ausdrücke wie für die abstraktesten. Bei den abstrakten Ausdrücken ist es aber fast lustig, daß die oft angestaunte Tätigkeit der Vernunft, eben die Abstraktion, nichts weiter ist als Vergessen, als ein Ausscheiden oder Entfernen von verdauten Empfindungen.

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