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Jede Erinnerung Aktion

Um uns dieser Frage ein wenig zu nähern, müssen wir einmal ausmachen, was wir eigentlich tun, wenn wir uns erinnern. So wunderbar es klingt, es ist auf den Hauptpunkt noch niemals hingewiesen worden, darauf nämlich, daß das normale Gehirn gar nicht, wie die landläufige Ansicht behauptet, seine Erfahrungen von selber wiederholt. Es ist nicht wahr, daß wir gesehene Farben abgeschwächt in unserem Gedächtnisse produzieren können, es ist nicht wahr, daß wir eine noch so bekannte Melodie im Gedächtnisse haben. Eine Disposition zur Wiederholung ist vorhanden, aber dieses Wort Disposition ist nur eine Verdunkelung der Frage, nicht ihre Lösung. Was geht denn in uns vor, wenn aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, wenn wir uns infolge unserer Disposition wirklich erinnern? Das ganze Wesen der Sprache lichtet sich ein wenig, und wieder von einer neuen Seite, wenn wir diesen alten Irrtum aufgeben. Das Folgende ist nicht nur das Ergebnis strenger Selbstbeobachtung, es ist auch durch vorsichtige Umfragen bei Hunderten von Menschen, auch bei Künstlern, welche sich lange gegen das Zugeständnis sträubten, kontrolliert.

Wenn ich mich auf eine bekannte Melodie besinnen will, so hilft mir alles passive Besinnen, alles Warten nichts; die Melodie fällt mir nicht ein. Ich muß sie innerlich singen, damit ich mich ihrer erinnere. Ich erinnere mich ihrer im Halse und nicht im Kopfe. Man halte sich gegenwärtig, daß — wie wir bald sehen werden — auch das Verstehen der Sprache mit Bewegungsgefühlen im Sprachorgan zusammenhängt. Das geht nicht nur unmusikalischen Menschen so. Eine eminent musikalische und zuverlässige Violinistin hat mir, nachdem die erste Überraschung überwunden war, bezeugt, daß auch sie eine Melodie nicht ganz passiv ins Gedächtnis zurückrufen könne, daß sie sie zur Herstellung der Erinnerung innerlich singen müsse, daß sie sich ihrer im Halse und daneben zugleich in den Fingern erinnere, indem sie sie unwillkürlich auf ihrem Instrument zu greifen glaube. Einer Farbe kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wahrscheinlich weil ich Farben nicht wie Töne erzeugen kann. Nicht erzeugen durch einfache Arbeit meines Körpers. Wohl aber kann ich — lächerlich schlecht natürlich, aber das tut nichts zur Sache — mit dem Tuschkasten in der Hand eine Landschaft, ein Gesicht nach der Erinnerung reproduzieren. Ein begabter Maler hat mir nach erbittertem Widerspruch zugestanden, daß es auch ihm nicht anders gehe. Er muß eine Zeichnung, er muß ein farbiges Gemälde schaffen, um sich seiner zu erinnern. Der Künstler hat besser gesehen, was ihn interessierte, als der Laie; ein passives Gedächtnis besitzt aber auch er nicht, auch er ist aktiv bei der Erinnerung. Der Alltagsmensch sieht so schlecht, daß er die Form eines Schrankes, der zwanzig Jahre in seinem Zimmer steht, aus dem Gedächtnisse nicht genau beschreiben könnte, daß er, auch wenn er zwanzigmal bewundernd vor der Sixtinischen Madonna gestanden hat, aus dem Gedächtnis nicht sagen könnte, ob sie den Jesusknaben auf dem rechten oder auf dem linken Arme trägt. Man irrt aber, wenn man das dem Gedächtnisse in die Schuhe schiebt; man hat eben unaufmerksam gesehen. Der aufmerksame Künstler kann den Schrank, kann die Sixtinische Madonna richtig nachzeichnen, aus dem Gedächtnisse, aber er muß tatsächlich oder in der Phantasie nachzeichnen, wenn er sich erinnern will. Jede Erinnerung ist eine Aktion.

Nun tritt aber in dieser Aktion etwas sehr Merkwürdiges hinzu, und darin steckt ein Rätsel des Gedächtnisses. Ich singe innerlich eine Melodie und empfinde, daß ich sie falsch singe; ich kann sie nicht richtig singen, aber ich weiß. daß sie anders ist. Der Maler zeichnet aus dem Gedächtnisse den Kopf eines Bekannten; er korrigiert die Fehler aus dem Gedächtnisse, und wenn er fertig ist, so weiß er, ob das Bildnis ähnlich geworden ist oder nicht. Wir besitzen also keine andere Erinnerung, als die wir uns aktiv neu schaffen, und doch sind wir im stände, unser Geschaffenes mit etwas zu vergleichen. Was ist das? Was ist das im Bewußtsein nicht Vorhandene, womit ich die in das Bewußtsein eintretende, von außen oder von innen eintretende Empfindung vergleiche? Dieses Etwas muß nun ganz allgemein etwas Physiologisches genannt werden; denn physiologisch sind die Nervenzustände, solange sie nicht zum Bewußtsein kommen, solange sie nicht psychologisch werden. Dies deckt sich nun freilich mit der Bezeichnung Disposition, mit welcher die neuere Psychologie versucht hat, eine unklare, aber dafür unwiderlegliche Grundlage für die Gedächtnistätigkeit zu schaffen. Früher nahm man im Gedächtnis haftende, bleibende Spuren älterer Eindrücke an; da diese Spuren unter dem Mikroskop nicht sichtbar wurden (vielleicht könnte man die von Flechsig beobachteten Gehirnänderungen als die ersten breiten Spuren von Masseneindrücken auffassen), mußte man an ihre Stelle die Hypothese unsichtbarer Spuren setzen, und das ist eben die Disposition. Das Wort hat sich zur rechten Zeit eingestellt.