Das Zeitmoment
Die Einzelerinnerung enthält aber sehr häufig wieder mehr als ihr lautliches Zeichen, den Zeitumstand, welcher dem Worte fehlt. Erinnere ich mich nämlich an die Palme, so führt mir die sogenannte Ideenassoziation blitzschnell zunächst die blühende Palme im Giardino Winter von Bordighera vor das innere Auge, und je nach dem Grade meiner Aufmerksamkeit erinnere ich mich, daß ich diese Wahrnehmung einmal, vor Jahren, damals gemacht habe, richtig, im Februar 1883. Und blitzschnell sehe ich die mit Früchten beladene Palme im botanischen Garten von Algier vor mir und erinnere mich, daß es einmal war, vor Jahren, damals, ach ja, ich holte einen Brief von der Post, es war im März 1895. Ob ich will oder nicht, zum mindesten ein ungenaues Zeitmoment ist an die Einzelerinnerung geknüpft, während der Begriff oder das Wort seinem Wesen nach zeitlos ist. Ich habe da das Ortsmoment über dem Zeitmoment vernachlässigt, weil das Zeitmoment fast immer an die Erinnerung selbst, das Ortsmoment viel häufiger an den Gegenstand der Erinnerung gebunden ist.
Das Vorstellungsmoment und das Zeitmoment in einer Erinnerung sind in unserem wirklichen Denken selten so geschieden, wie wir sie hier begrifflich zu scheiden im stande waren. Die leiseste Anregung kann unsere Aufmerksamkeit von der Vorstellung auf die Zeit lenken. Ein ähnliches Verhältnis findet statt bei einer Art unmittelbarer Wahrnehmung. die uns jetzt helfen wird, diese Mischung in der Tätigkeit des Gedächtnisses zu erklären oder wenigstens durch Analogie zu begreifen. Das neugeborene Kind lernt sicherlich das Sehen früher als das Raumschätzen. Der operierte Blindgeborene erblickt zunächst alle Gegenstände auf einer Fläche, und diese Fläche ist hart vor den Augen. Unser Raumsehen aber vollführen wir blitzschnell, indem wir instinktiv, d. h. in diesem Falle automatisch nach jahrelanger, millionenfacher Einübung, aus der Stellung unserer Augen, aus dem Unterschiede in der Stellung beider Augen und aus zahlreichen Daten der Perspektive die gesehenen Gegenstände im Räume verteilen. Wollen wir den Unterschied in den Ursachen des Flachsehens und des Raumsehens auf den kürzesten Ausdruck bringen, so können wir sagen: das absolut ruhende eine Auge, wenn es eine so absolute Ruhe im Blicken gäbe, würde flach sehen; das Raumsehen wird verstandesmäßig erschlossen aus den Bewegungen der Augen oder vielmehr aus unseren Bewegungsgefühlen beim Blicken. Ohne nun irgend einen experimentellen Anhalt dafür zu haben, daß das Zeitmoment in der Erinnerung ebenfalls durch eine Bewegung im Gehirn, d. h. durch eine relativ lebhaftere Bewegung der Assoziationen, hergestellt wird, können wir uns doch vortrefflich ausmalen, wie eine verhältnismäßig ruhige Anregung einer Gehirnzelle die Disposition zu einem Bilde wieder belebt, also eine zeitlose, rein begriffliche Vorstellung schafft, während ein blitzschnelles Überblicken der mitassoziierten Ideen uns dazu verhilft, diese Vorstellung in der Vergangenheit zu lokalisieren. Ich bemerke dazu, daß die Gesichtswahrnehmungen, seien sie nun im Räume lokalisiert oder nicht, sehr wohl ohne Sprache vor sich gehen können, daß hingegen Erinnerungen immer das Bestreben haben, sich mit Worten zu verbinden. Auf die Gefahr hin, die Bedeutung des Gesagten wieder ins Schwanken zu bringen, muß ich weiter bemerken, daß in der Einzelerinnerung sowohl die Vorstellung als das Zeitmoment hungrig nach Worten sind. Der Sprache nahe verwandt ist freilich nur die Vorstellung selbst; ich weiß nicht einmal, ob ich mir z. B. die blühende Palme in Bordighera und die fruchttragende Palme in Algier mehr begrifflich in Worten oder mehr bildlich in der Phantasie deutlich machen kann. Es mag das von der größeren oder geringeren Übung der malerischen Phantasie abhängen. Aber auch das Zeitmoment der Vergangenheit bleibt ohne Worte undeutlich; ich muß wahrhaftig die Jahreszeit und die Jahreszahl aussprechen oder inwendig denken, will ich mir das Zeitmoment recht zum Bewußtsein bringen.