Gedächtnis und Sinne
Die wissenschaftliche Zählung von Formen hat immer etwas Bedenkliches. Wenn die Grammatiker seit zweitausend Jahren darüber streiten, wie viele Fälle die Deklination des Nennworts eigentlich besitze, wenn wir in der Schule fünf solche Fälle auswendig lernen, so ist das um nichts alberner, als wenn von unseren fünf Sinnen die Rede ist. Wir haben zwei Ohren und zehn Finger; aber die zwei Ohren bedienen nur ein Gehör, und die zehn Finger bedienen die Wahrnehmung gründlich verschiedener Sinnesempfindungen, von denen die gegenwärtige Psychologie bereits die Wärmeempfindung und die Druckempfindung unterscheiden kann. Tasten und Wärmefühlen ist voneinander nicht weniger verschieden als Sehen und Riechen.
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Laura Bridgman hat ihr Gedächtnis oder überhaupt die Kopfarbeit als ihren vierten Sinn empfunden. Und es stünde gar nichts im Wege, so wie Laura, das Gedächtnis als einen neuen Sinn, als den Übersinn meinetwegen, auch psychologisch aufzufassen. Ich kann sehen und tasten, was ich rieche und schmecke und höre; so kann ich wiedererkennen, ins Gedächtnis zurückrufen, was die anderen Sinne mir mitgeteilt haben. Daß die modernen Sprachen diese Tatsache ungeschickt ausdrücken, läßt sich eben auf falsche Psychologie zurückführen. Der ungelehrte Mann erinnert das und das. Die gebildete Sprache, die durch die Marterkammer falscher Seelenlehren hindurchgegangen ist, erinnert sich dessen und dessen. Mit demselben Recht müßte dieselbe Sprache sagen: Ich sehe mich einer Sache, wie denn die Griechen es zum Kreuz der Logiker ähnlich ausdrückten. Ribot definiert das Gedächtnis sehr hübsch als ein Sehen in der Zeit. Wir werden die Zeit als die vierte Dimension des Wirklichen kennen lernen. In Anknüpfung daran wird es uns umso schneller einleuchten, daß unser Gedächtnissinn einzelne vergangene Vorstellungen, die sogenannten Erinnerungen, genau ebenso in der Zeit lokalisiert, wie unser Gesichtssinn seine Vorstellungen in den drei Dimensionen des Raumes lokalisiert. Und genau so wie der Schnittpunkt des Koordinatensystems für unsere Augen durch unser Gehirn geht, so ist der Nullpunkt für die Erstreckung der Zeit immer unsere Gegenwart; der Nullpunkt bleibt bei uns, während wir in der Zeit weiterleben, wie das Koordinatensystem des Raumes sich mit uns bewegt. Die begriffliche Schwierigkeit läge nur darin, daß das Gedächtnis uns die Zeit erst erzeugt, in welche es die Daten der übrigen Sinne projiziert. Aber solche Schwierigkeiten stören uns in jeder weiten oder engen Definition.
Wenn Herings Erweiterung des Begriffes "Gedächtnis" ("Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organischen Materie") — wie ich glaube — richtig ist, daß nämlich nicht nur im Gehirn eine bewußte Reproduktion von Vorstellungen, sondern in allen sensiblen und motorischen Nervenbahnen eine erleichterte unbewußte Reproduktion der Eindrücke und Bewegungsimpulse vorhanden ist, daß also das Nervensystem für Atmung und Ernährung ebenso sein Gedächtnis hat wie das Cerebralsystem, — dann muß man sagen, daß das sympathische Nervensystem und mit ihm alle Leitungsbahnen der sogenannten Instinkthandlungen weit exakter arbeiten als die Ganglien des Gehirns. Wie ein schlechterer Kopf sich schriftliche Notizen machen oder sonst äußere Gedächtnishilfen anwenden muß, um sich im gegebenen Fall bestimmt an das Notwendige zu erinnern, so braucht das Gehirn die Sprachworte als Taschentuchknoten, als Knotenpunkte für den Wirrwarr seiner Vorstellungen. Das sympathische Nervensystem kennt allerdings, nach menschlicher Gehirnvorstellung, nicht eine so große Mannigfaltigkeit, dafür aber arbeitet es eleganter, ohne den plumpen Apparat der Sprache.
Es ist also ganz falsch, die Sprache als das höchste Produkt des Geistes hinzustellen, etwa so, wie die Klaviertöne das Ziel und das Erzeugnis des Gedächtnisses seien, welches Übung in den Fingern des Virtuosen erzeugt hat. Das Gehirngedächtnis haftet freilich an Tönen, wie das Fingergedächtnis an Notenzeichen; nur daß die Noten des Virtuosen von einem überlegenen Musiker, dem Komponisten, hingesetzt sind, die Worte der Sprache jedoch für das Gehirn eben nur so viel sind, wie die Noten für den Komponisten selbst. Für sein eigenes musikalisches Denken eigentlich überflüssig; unentbehrlich nur für den Nachspieler und für den Drehorgelbauer.
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