Aderlass bei Krankheiten
In Krankheiten lassen wir zur Ader:
a) bei inflammatorischen und fieberhaften Zuständen mit vollem, gespanntem, hartem Pulse, also bei allen heftigen arteriellen Entzündungen mit bedeutendem Lokalschmerz in der Brust, mit Dyspnoe, Angst etc. verbunden. Aber der Puls allein kann nie den Aderlass indizieren. Es gibt Unterleibs- und Herzentzündungen mit kleinem Pulse, wo dennoch das Blutlassen höchst nötig ist. Wir müssen hier folgende Punkte wohl berücksichtigen:
α) Die Konstitution und das Alter; je kräftiger der Mensch ist, je mehr er sich im Mannesalter befindet, desto eher wird Blutverlust vertragen, zumal wenn die Zeichen der Plethora zugegen sind und die Krankheit mit starker Röte des Körpers und vermehrter Hitze verbunden ist. Je zarter, schwächlicher und jünger das Subjekt ist, desto vorsichtiger sei man mit dem Aderlass, ebenso bei Greisen im hohen Alter. Noch nie habe ich nötig gehabt, Kindern unter acht Jahren zur Ader zu lassen; hier reichen bei heftigen Lokalentzündungen Blutegel und Nitrum schon aus.
β) Die Dauer und die Form des Leidens. In chronischen Krankheiten, verbunden mit Schwäche und Abmagerung, wird wohl kein Arzt an das Aderlassen denken, das nur in akuten fieberhaften Krankheiten angewandt zu werden pflegt. Aber auch hier wird oft viel Missbrauch damit getrieben; jedes entzündliche und fieberhafte Leiden, das schon sieben Tage alt ist, erfordert, sind auch alle Indikationen da, einen Aderlass nur mit der größten Vorsicht; denn der Kranke hat ja schon mehrere Tage so zu sagen gehungert, hat an Kräften abgenommen und das Fieber hat mit seinem Sturm ihn wahrlich auch nicht gestärkt. Ich bin hier mit fortgesetzter antiphlogistischer Diät und massigen Antiphlogisticis internis, und mit Anwendung derivierender Mittel meist ausgekommen. Gerade in dem einen Punkte, die Dauer der Krankheit betreffend, fehlen bei Anwendung des Blutlassens so viele Ärzte. Nur in den ersten drei bis sieben Tagen der Krankheit kann es nützlich sein, aber schwerlich später.
γ) Die Natur und der Charakter des Leidens. Es versteht sich von selbst, dass wir nur bei rein arteriellen Entzündungen und echt inflammatorischen Fiebern und nur bei Abwesenheit jeder wahren Schwäche des Kranken Venaesektionen anwenden dürfen.
δ) Die Witterungskonstitution und der herrschende Krankheitsgenius. Vom Jahre 1815 bis 1826 herrschte in Deutschland der echt inflammatorische Charakter bei allen Fiebern und Entzündungen, und ich war bei häufiger Anwendung der Blutausleerungen in meiner Praxis sehr glücklich, ja meine Einseitigkeit ging so weit, dass ich Max. Stoll’s antigastrisches Verfahren in Gedanken oft sehr tadelte. Jetzt habe ich mich eines Bessern belehrt; denn seit dem Jahre 1826 herrscht hier der nervös-gastrische Krankheitsgenius, die Lanzette oder der Schnepper ruhen, aber die Vomitive und die antigastrische Methode haben den besten Erfolg, so dass ich jetzt völlig nach Max. Stoll, und zwar mit Glück kuriere. Wer in unseren Tagen bei seinen Kranken Blut verschwendet, fährt sehr schlecht; wie lange indessen diese nervös-gastrische Konstitution noch anhalten wird, dies vermag wohl Niemand im Voraus zu bestimmen.
b) Auch da, wo keine entzündlichen Zustände obwalten, aber der Blutumlauf und die Oxydation des Blutes gehemmt worden, z. B. bei Stickfluss, bei Zyanose, Cholera asiatica, bei Vergiftung durch Kohlenstoffgas, bei Erhängten etc., sind Aderlässe als Palliativ um so mehr indiziert, je weniger der Kranke an wahrer Adynamie leidet, je größer die Lebensgefahr und je kohlenstoffhaltiger das Blut ist, das durch die Präponderanz des Kohlenstoffs wiederum als Narkotikum aufs Gehirn und Nervensystem wirkt und so den Tod verursachen kann; wo also die Zeichen der gehinderten Oxydation und des unterdrückten Nervenlebens: kalte Glieder, bläuliches Ansehen des Gesichts, der Extremitäten, Dyspnoe, Krämpfe, Angst etc. da sind.
Kontraindiziert sind, höchst seltene Fälle ausgenommen, die Venaesektionen bei allen Krankheiten, die schon über neun Tage alt sind, bei Kindern, schwächlichen Frauen und abgelebten Greisen, bei alten Krankheiten mit wahrer Adynamie und zur Zeit der gastrisch-nervösen Krankheitskonstitution, bei allen chronischen Übeln, Dyskrasien und schleichenden Fiebern. Wichtig ist noch der Umstand, dass Vollblütigkeit die Resorptionskraft der Venen vermindert, Blutmangel dagegen sie vermehrt. Da nun viele Arzneikörper, gelangen sie nicht mittels der Venen ins Blut, gar keine oder wenigstens nur geringe Wirkungen äußeren; so erklärt es sich, wie vollsaftige, robuste Personen viel größere Dosen Arzneien vertragen können, als blutarme, schwache (die frühere Erklärung, dass depotenzierte Irritabilität und dadurch potenzierte Sensibilität hier Schuld sei, wollen wir nicht weiter urgieren. Tempi passati!) — und dass eine Venaesektion bei der Louvrier-Rust’schen Schmierkur das beste Mittel ist, Salivation zu befördern.
Hieraus geht aber der richtige, noch nicht von allen Praktikern beherzigte oder ihnen nur bekannte Grundsatz hervor, dass in der Regel bei allen Vergiftungen das Aderlassen kontraindiziert sei, weil es die Resorptionskraft der Venen verstärkt und eine Menge Gift ins Blut führt, das sonst noch unwirksam im Tubus intestinalis gelegen haben würde. Dies ist bei allen metallischen Giften zu bedenken; auch bei den narkotischen und scharfen Pflanzengiften muss der Aderlass höchst vorsichtig angewendet werden; nur da, wo bedeutendes Hindernis in der Blutzirkulation und Blutanhäufung im Kopf, in den Lungen stattfindet — wo das Gesicht kirschbraun, der Atem beschwerlich ist — z. B. bei Intoxikation durch Stramonium, Hyoscyamus, Opium, Kohlendunst, muss, um der Indicatio vitalis zu genügen, Blut gelassen werden. Hinterher dienen: sogleich viel frische Luft, kalte Sturzbäder, vor Allem aber schnelle Entfernung des Giftes durch ein Vomitiv, durch die Magenspritze, wenn es anders noch im Darmkanal verweilt. (S. Anhang I. A.) Die Quantität des wegzulassenden Blutes lässt sich im Allgemeinen nicht absolut bestimmen. Die Umstände, die Beschaffenheit des Blutes und die Veränderung des Pulses müssen zur Leitung dienen. So z. B. lässt man bei Pneumonie das Blut so lange fließen, bis der unterdrückte kleine, schnelle Puls größer, voller und freier geworden ist. Ein frühes Aderlassen und eine hinreichende Menge sind hier zu Anfange der Krankheit besser, als zwei bis drei Aderlässe späterhin. In Fällen, wo man gern eine Ohnmacht erregen will, z. B. bei bedeutenden inneren akuten Leiden und großer Straffheit der Faser, bei aktiven Hämorrhagien etc. lässt man den Kranken aufrecht sitzen; will man sie verhüten, so muss der Kranke, während das Blut fließt, flach liegen. Die gewöhnliche Quantität des abzulassenden Blutes ist vier bis acht Unzen, in selteneren Fällen hat man aber auch zehn bis zwanzig Unzen Blut auf einmal gelassen; z. B. bei der Pneumonie robuster Personen, wo beide Lungen ergriffen sind. — Ein revulsorischer Aderlass bei magern Leuten, um dadurch dem Blut eine Ableitung zu geben, a. B. bei Schwangeren vom Uterus, um dem drohenden Abortus zu verhüten, darf stets nur klein sein, und oft erreicht man schon seinen Zweck, wenn man auch nur zwei bis drei Unzen Blut lässt.
Die Aderlässe an den Füßen sind in neuerer Zeit mit Unrecht vernachlässigt worden; aber sie haben ihren hohen Wert; wo man ableiten und Ohnmachten vermeiden oder während der Menses Blut entziehen will, sind sie den Armaderlässen vorzuziehen (Bagliv), welche letztere dagegen bei zögernden Geburten, bei entzündlicher Harnverhaltung den Vorzug verdienen (Forest). Die unsinnige Behandlung mit Aderlassen coup à coup à la Bouillaud u. A., die im J. 1840 in Paris bei so vielen Kranken versucht wurde, bedarf meiner tadelnden Widerlegung nicht; denn die Zeit selbst wird sie am besten richten.
Über den Gebrauch und Missbrauch des Aderlassens kann außer den beiden oben angeführten Schriften noch nachgelesen werden: F. X. Metzler, Versuch einer Geschichte des Aderlassens. Ulm, 1793. G. Vieusseux, De la saignée et de son usage dans la plupart des maladies. Par. et Geneve. 1815. Behrisch, Die Missbräuche des Aderlassens. Leipz. 1767. G. F. L. Griese, Über richtige Anwendung des Aderlassens etc. Braunschweig, 1804. L. Wetzlar, Die Nachteile unzeitiger und übermäßiger Anwendung des Aderlassens und anderer Blutentziehungen. 1837.
Wenn ich mich hier über die Blutausleerungen, namentlich über den Aderlass weitläufig ausgesprochen habe, was Manchem überflüssig scheinen möchte; so habe ich darüber Folgendes zu bemerken:
1) In vielen Gegenden Deutschlands und Frankreichs herrscht nach fremden und eignen Erfahrungen, noch die tadelnswerte Sitte mancher Landleute, sich, weil sie es von ihren Vätern und Großvätern gehört und gesehen, jährlich zwei bis drei Mal zur Ader zu lassen, wenn ihnen auch nicht das Geringste fehlt. Sie gehen deshalb zu Barbieren und Dorfbädern, die Jedem, der nur zahlen kann, Blut lassen, es mag ihm nützlich oder schädlich sein. —
Gegen diese Unsitte und dieses, so wie gegen alle anderen medizinischen Vorurteile, welche tiefe Wurzeln geschlagen haben, gibt es nur Ein Radikalmittel, d. i. richtige und gründliche Belehrung der Jugend in den Stadt-, Land- und Volksschulen, zu deren Verbesserung und Vermehrung man seit wenigen Jahren auch in Frankreich ernste Schritte getan und hierin Deutschland, insbesondere Preußen, zum Muster genommen hat.
2) Soll aber über diesen einzelnen wichtigen Gegenstand, so wie über jeden anderen der Gesundheit und des Krankseins, der besten Diät, der Gesundheits- und Volksarzneikunde, die Jugend richtig belehrt und so eine, weniger den medizinischen Irrtümern und Vorurteilen unserer Zeit ergebene neue Generation herangebildet werden; so ist’s vorzüglich notwendig, dass die Jugendlehrer erst selbst die nötigen Kenntnisse dazu sich verschaffen, — ein Umstand, der bei Bearbeitung dieser, für gebildete Leser aller Stände bestimmten Schrift wohl beherzigt worden ist. —