Präventiver Aderlass
In früheren Zeiten ließ man nicht allein Kranken, sondern auch Gesunden zur Ader. So liebte man die sogenannten Präservativaderlässe, welche vor Krankheiten schützen sollten und womit Wundärzte und Bader einen so großen Unfug trieben, dass die Arzte unserer Zeit jeden Präservativaderlass verdammt haben und zwar der Ansicht gemäß, dass es törig sei, ein Mittel gegen eine Krankheit zu gebrauchen, die noch nicht da sei. Ich will hier dem Aderlassen bei Gesunden keineswegs das Wort reden, aber nur bemerken, dass es mit den Präservativaderlässen eine andere Bewandtnis habe, dass etwas Wahres daran sei, und die Sache einen tiefern Grund habe, als man gewöhnlich glaubt. Folgende Andeutungen mögen hier mehr Licht geben:
1) Gäbe es in der Natur mehr als eine nur relative Gesundheit des Menschengeschlechts, wäre die Idee von absolutem Wohlsein mehr als Idee, so würde vor Eintritt einer Krankheit der Gebrauch eines jeden Heilmittels, also auch des Aderlasses, höchst lächerlich, entbehrlich, ja schädlich sein. Dies ist aber nicht der Fall; denn
2) es gibt viele Menschen, die sich mit der Anlage zu dieser oder jener Krankheit lange Zeit umherschleppen oder die Vorboten derselben schon verspüren, ohne dass sie eigentlich krank oder bettlägerig wären, sowie es denn fast keinen Menschen gibt, der sich stets im vollkommensten Zustand der Gesundheit befände. Wenn wir z. B. einem Menschen mit Diathesis phthisica ruhiges Leben, Milchdiät, Landluft anraten, so sehe ich nicht ein, warum wir dem plethorischen Mann mit Habitus apoplecticus, zumal bei Ostwinden, bei Diathesis inflammatoria, in den Äquinoctialzeiten und wenn er über Schwindel, Gedächtnisschwäche und unruhigen Schlaf klagt, dabei ein rotes aufgetriebenes Gesicht hat, an Obstructio alvi leidet, nicht auch einen präservierenden Aderlass und hinterher knappe Diät und Wasserkur empfehlen sollten, um auf diese Weise den nahe bevorstehenden, lebensgefährlichen Blutschlagfluss hier ebenso, wie dort die Ausbildung der wahren Lungenschwindsucht zu verhüten. Ich habe in meiner Praxis Fälle der Art erlebt, ich riet unter den genannten Umständen zum Aderlass, zu einer Frühlings-, Kräuter- und Molkenkur, es unterblieb, weil man sich noch nicht krank fühlte, und 8 oder 14 Tage später trat Apoplexia sanguinea ein, die entweder sogleich dem Leben ein Ende machte oder Lähmungen hinterliess.
Ich bin zwar überzeugt, dass alle Präservativaderlässe völlig entbehrt werden könnten, wenn die Subjekte, denen sie nützlich sind, recht streng in der Befolgung ärztlicher Vorschriften wären, z. B. den Spirituosis, den starken Abendmahlzeiten entsagten, dagegen drei bis sechs Wochen lang täglich die strenge Wasserkur brauchten, d. h. täglich höchstens ein Pfund altes Weißbrot äßen, 8—16 Maß kaltes Quellwasser, frisch geschöpft, tränken, und jede andere Speise, jedes Getränk streng eine Zeit lang vermieden. Da aber die meisten Menschen ihren Sinnesgenüssen doch nicht entsagen wollen und das Feuer der nahen Gefahr oft schon auf den Nagel brennt, so muss man unter solchen Umständen wohl zum Aderlassen sich entschließen, weil periculum in mora da ist. —
3) Schwangeren Personen, die schon Öfter an Abortus litten, lasse ich gegen die Zeit, wo sich dieser sonst gewöhnlich einstellte, also in der Regel zwischen der 10.—14. Woche, eine Portion Blut, bei schwächlichen nur 3—4, bei robusten 12 — 16 Unzen, noch ehe die Vorboten des Abortus da sind, und ich bin dabei, neben gleichzeitigen anderen Mitteln, sehr glücklich gewesen und ein reifes, gesundes, oft starkes Kind war die Folge. —
4) Vollblütige Personen leiden im letzten Monate der Schwangerschaft oft an wahrer Vollblütigkeit, an Kopfweh, Schwindel beim Bücken, an Obstructio alvi, an bedeutenden Krampfadern. Nichts erleichtert hier mehr, nichts gibt mehr eine leichte Geburt, als eine mäßige Venaesektion; hinterher passen gelinde kühlende Abführungen, knappe Diät und massige Bewegung in freier Luft.
5) Da die wahre, aktive Vollblütigkeit zu zahlreichen Krankheiten Gelegenheit geben kann, so waren in früheren Zeiten bei recht Vollblütigen die sogenannten Präservativ- oder Gewohnheitsaderlässe, welche unwissende Wundärzte, Bader nach eigner Willkür aus Dummheit oder Gewinnsucht auch den nicht Vollblütigen anrieten, recht an der Tagesordnung, ja ich erinnere mich von meinen Reisen her eines Kirchdorfs in Deutschland, wo der Geistliche, nachdem er am Sonntage ein paar Stunden auf der Kanzel über eine dunkle Stelle in der Apokalypse gesprochen hatte, seiner Gemeine noch das Aderlassen empfahl, da es jetzt gerade die geeignete Zeit dazu sei.
6) Die Ursachen und Zeichen der wahrhaften Plethora: nahrhafte Lebensweise, viel animalische Kost, ruhiges Leben, wenig Bewegung, viel Schlaf, Leibesverstopfung, das Ausbleiben gewohnter Blutflüsse, ein voller, starker und harter Puls, aufgelaufene Blutadern, ohne dass der Mensch mager ist oder sich eben erhitzt hat, rotes, aufgetriebenes Gesicht, Schwere in den Gliedern, Steifigkeit derselben, unruhiger Schlaf, große Ermüdung nach geringer Körperbewegung, Herzklopfen, Schwindel, Kopfschmerz bei guter Digestion, große Hitze und Jucken der Haut, Nasenbluten mit Erleichterung etc., alle diese Zeichen indizieren an sich nicht den Präservativaderlass; letzterer kann völlig ersetzt werden durch knappe Diät und durch die oben angegebene mehrwöchentliche strenge Wasserkur, welche zugleich vom Kopf ableitet, das Blut verdünnt und die Leibesverstopfung hebt, weshalb denn auch der sonst oft indizierte Gebrauch der kühlenden Laxanzen nicht immer notwendig ist.
7) Wenn bei Vollblütigkeit Präservativaderlässe für den Augenblick auch ein herrliches Palliativ abgeben, ja bei drohender Gefahr des Schlagflusses oft unersetzlich sind, da kein anderes Mittel so schnell die Blutmasse mindert und das Blut verdünnt als sie; so haben gewohnte Blutausleerungen doch den großen Nachteil, dass sie für die Folge gerade die Plethora begünstigen und einen öfter wiederholten Aderlass nötig machen. Das wahre Mittel, Plethora gründlich zu heilen, besteht daher nicht im Blutlassen, sondern in guter Diät und Lebensweise, im reichlichen Genuss eines frisch geschöpften Quellwassers, ganz rein getrunken, oder auch mit Elix. aeid. Halleri versetzt, bei Plethora spuria in kräftiger Nahrung etc. Auch Fischer (a. a. O. S. 50 ff.) schätzt die Präservativaderlässe bei recht vollsaftigen Schwangeren in der letzten Zeit der Schwangerschaft, bei robusten Männern mit Habitus apoplecticus etc. hoch, gesteht aber auch, dass eine strenge Diät sie oft entbehrlich machen kann.