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Blutentziehungen

Blutentziehungen (Sanguinis missiones). Hierher rechnen wir vorzüglich die Blutentziehung durch Aderlass, durch Blutegel (s. d.) und durch Schröpfen. Unter den drei Kardinalmitteln der Heilkunst (Aderlass, Brechmittel und Opium) stellt Hufeland (Encheirid. med. 1838. vierte Aufl. p. 906-818) den Aderlass oben an. „Er ist das einzige Mittel — sagt er — wodurch wir einen Teil des Lebens wegnehmen und die Summe der Lebenskraft selbst, und zwar in ihrer ersten Quelle, vermindern können. Denn das Blut ist belebt, ist ein flüssiges Lebensorgan! Des Menschen Leben steckt in seinem Blut! Es ist die Mutter, der Sitz alles Lebendigen; ohne Blut gibt es kein Leben der Nerven, des Gehirns, wohl aber ohne Nerven Leben des Herzens und des Blutes. — Lebensschwächung ist daher die erste und Fundamentalwirkung der Blutentziehung; daher ist der Aderlass das größte Mittel in allen Krankheiten, wo ein Übermaß des Lebens sich im Blut entwickelt, d. i. in den echt entzündlichen.“ Hier ist der Aderlass das erste entzündungswidrige Mittel (Antiphlogisticum), was durch kein anderes, wo es auf Rettung des Lebens ankommt, ersetzt werden kann. — Die zweite, ebenso wichtige Wirkung ist: Erschlaffung der Faser und die damit zusammenhängende Lösung des Krampfs und der Kontraktion der Faser. Dadurch kann er ein großes Mittel auch in solchen Krankheiten werden, die eigentlich nicht Entzündung heißen, wenn bei ihnen eine entzündliche Disposition vorhanden ist: bei Nervenkrankheiten, Krämpfen aus Konvulsionen, aus übermäßiger Blutfülle, bei solchen Nervenfiebern, bei Suppressionen der Ausleerungen von krampfhafter Reaktion, selbst zur Beförderung der Krise, des Ausbruchs bei fieberhaften Exanthemen. Hier und in der vorigen Wirkung kommt alles auf die gehörige Menge und die Geschwindigkeit der Ausleerung an, von der hauptsächlich der Moment der Lebensschwächung und der Erschlaffung abhängt. So z. B. ist bei heftiger Lungenentzündung (Pneumonia) vollsaftiger Männer eine früh angestellte Venaesektion von acht bis zehn Unzen Blut, das aus einer großen Aderöffnung strömt, weit heilsamer, als zwei bis drei Blutausleerungen späterhin und aus einer kleinen Aderöffnung. — Die dritte Wirkung ist die entleerende, die Quantität des Bluts vermindernde. „Sie muss — sagt Hufeland — von der vorigen besonders betrachtet werden. — Sowie Vollblütigkeit kein eingebildeter, sondern ein sehr wahrer Krankheitszustand ist und lediglich in der zu großen Menge des Bluts der einzige Grund unzähliger Krankheiten liegen kann, so kann auch die bloße Verminderung der Blutmenge als eine Ausleerung ohne alle entzündliche Beschaffenheit ein sehr großes Heilmittel werden.“ Hier ist der Ort der Entziehung ganz gleichgültig. — Die vierte endlich ist: Ableitung (Derivatio), höchst wichtig bei örtlichen Kongestionen und Affektionen. Hier kommt es vorzüglich auf den Ort der Entziehung an; z. B. bei Pleuritis stets am Arme der leidenden Seite, bei drohendem Abortus nur am Arme, um ihn zu verhüten, nicht am Fuß. der ihn begünstigt (Hufeland, Most).

In der Brownschen Periode, wo die dieser medizinischen Lehre anhängenden Ärzte alle schwächende Mittel scheuten, wurde das Aderlassen sehr versäumt, selbst das oft so notwendige, den Schlagfluss verhütende Präservativaderlass bei Habitus apoplecticus. Hufeland vermutet, dass die in jener Zeit so häufig beobachteten Herzkrankheiten wohl Folge der unterlassenen Blutausleerungen bei Vollblütigen gewesen seien. Gestützt auf vieljährige Erfahrung sind es namentlich folgende Fälle, wo Hufeland den Aderlass so wohltätig und unentbehrlich, seine Unterlassung aber höchst gefährlich und Tod bringend hält.

1) Die Schwangerschaft. Jede Schwangere muss betrachtet werden als ein doppellebiges Wesen, mit vermehrter Sanguifikation, Reproduktion und unterdrückter gewöhnlicher Blutentleerung, und also immer mehr zum plethorischen und sthenischen Zustand hinneigend, als zum Schwächezustand. — Höchst wichtig ist es, hier zwei verschiedene Zeitabschnitte der Gravidität sich zu notieren, wo der Aderlass das einzige Mittel ist und dringend erfordert wird, um große Gefahr zu verhüten, nämlich 1) im zweiten bis fünften Monat, wenn heftige Zufälle: Kopf- und Zahnweh, Erbrechen, Schwindel, Ohnmachten, Husten, Brustbeklemmung, — oder Vorboten des Abortus: Leibweh, Kreuzschmerz, Gefühl von Taubheit und Eingeschlafenheit (Narcosis) in den Schenkeln, Drang auf Blase und Uterus u. s. w. auftreten. Hier beschwichtigt ein Aderlass am Arme alle Zufälle; selbst bei schwächlichen Frauenzimmern wandte ich ihn in kleiner Menge von drei bis vier Unzen Blut mit dem größten Nutzen an. 2) Im letzten Monat, kurz vor der Geburt. Hier finden wir unter 100 Schwangeren wenigstens 80 mit Vollblütigkeit. Hier ließen unsere Alten am Fuß zur Ader und mochten es gern, wenn die Schwangere die Aderlassbinde noch mit ins Wochenbette nahm, d. h. einen bis zwei Tage vor der Geburt zur Ader ließ. Dies hat, nach Hufeland’s, meinen und tausend anderer Ärzte Erfahrungen folgende Vorteile: a) es erleichtert bestimmt die Geburt und verhütet Krampfwehen; b) es schützt vor einer Menge übler Folgen und gefahrvoller Zufälle bei und nach der Entbindung: Apoplexie, Metrorrhagie, Febris puerperalis, Eclampsia parturientium. „Es ist — sagt Hufeland sehr wahr — eines der furchtbarsten und erschütterndsten Ereignisse, wenn gesunde und blühende Kreisende, während oder gleich nach glücklich überstandener schweren Geburtsarbeit plötzlich mit oder ohne Konvulsionen, durch apoplektischen Tod hingerafft werden, zuweilen ohne allen Blutsturz, zuweilen mit und nach ihm.“ Er sah dies Unglück am häufigsten bei jungen, vollblütigen Weibern und als Folge starker Blutkongestion zum Gehirn an, verhütete aber in solchen Fällen den Tod durch einen Aderlass kurz vor der Geburt, sah alsdann wenigstens nie solche Zufälle auftreten.

2) Die Periode der Kessation der Menses. Hier ist häufig Plethora und Blutkongestion nach einzelnen Organen, welche ein Aderlass alle drei bis sechs Monate, bei örtlichem Blutandrange auch noch alle acht Wochen 16 blutige Schröpfköpfe erfordern, desgleichen alle sechs Wochen vier bis sechs Tage lang jeden Morgen sechs bis zehn Unzen Bitterwasser, bis nach Verlauf geraumer Zeit alle Beschwerden aufgehört haben und sich nicht mehr periodisch alle vier bis acht Wochen einstellen. Diese Kur präserviert in der Decrepititätsperiode, d. i. in der Zeit von 46 bis 50 Jahren, wo bei Frauenzimmern naturgemäß die monatliche Reinigung aufhört, vor zahlreichen Übeln: Metrorrhagie, Bluthusten, Blutbrechen, Hämorrhoiden, Nervenbeschwerden, Krämpfe aller Art, Scirrhus uteri, Geschwüre, Hydrops u. s. w.

3) Bei Phthisis pulmonum florida mit entzündlicher Diathese, gereiztem Pulse, öfteren Bruststichen, Bluthusten, roten Wangen, brennenden Handtellern. „Hier habe ich oft schon — sagt Hufeland (l. c. p. 813) in den gefährlichen Jahren des Lebens, vom 16. bis zum 25., durch folgende Behandlung die gefährliche Lebenszeit überstehen helfen: alle zwei bis vier Monate ein mäßiger Aderlass von sechs bis acht Unzen, Fontanellen, noch besser Seidelbast, auf den Armen, dabei nichts als Molken- und Milchkuren, Mellagines von Tussilago, Chaerefolium, Borrago, Rad. graminis, Gurkensaft, kleine Dosen Digitalis.“

4) Die apoplektische Anlage. Bei Personen mit dem bekannten Habitus apoplecticus und im Alter über 40 oder 50 Jahren, die an Schwindel, Kongestionen zum Kopf und an den Vorboten der Apoplexie leiden. Hier rühmt Hufeland von Zeit zu Zeit einen Aderlass, bald am Arm, bald am Fuß, zumal im Mai, Juni und November. Außerdem lobt er dabei öfters — alle Monat einige Tage lang — kühlende Abführungen, z. B. bei Komplikation mit Gicht mit Guajak und Cremortartari, von jedem täglich 10 bis 15 Gran, und wenn Congestio haemorrhoidalis zugegen, noch 10 bis 15 Gran Lac sulphuris hinzugesetzt.

5) Lungenblutungen und Metrorrhagie vollsaftiger Personen erfordern oft notwendig das Aderlassen, ebenso Commotio cerebri und Hirnentzündung, zumal zur Verhütung der letztern gleich Blut gelassen nach der Erschütterung; endlich bei Plethora ad spatium, bei kleinen Buckeligen mit dickem rotem Kopf, kurzem Hals, viel Blutandrang zum Kopf, zur Brust.

Ich teile hier noch folgende Bemerkungen über den Aderlass mit, welche sich schon anderswo (Most’s medic.-chirurg. Enzykl., 2. Aufl., Bd. 2., S. 1031) vorfinden, die ich aber um kein Wörtchen verändern kann, da ich von ihrer Wahrheit noch immer überzeugt bin.

"So wichtig in zahlreichen Krankheiten das frühe Aderlassen und besonders sein Gebrauch in echten, arteriellen Entzündungen aller edlen Organe der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle und in hitzigen, rein entzündlichen Fiebern ist, so nachteilig ist das unzweckmäßige Blutlassen von jeher gewesen, und der Missbrauch desselben bat Tausende ins Grab gestürzt und tut dies noch täglich, um so mehr, da Broussais die Blutverschwendung wieder eingeführt und viele blindgläubige Schüler gefunden hat, deren Zahl indessen sowohl in Frankreich, als auch und besonders in Deutschland jetzt (1843) Gottlob! sehr gering geworden ist.“ Eine sehr gute Schrift, welche die Anzeigen und Gegenanzeigen des Blutlassens genau angibt, ist: Simon jun., Der Vampirismus im 19. Jahrhundert etc. Hamb. 1831. Auch gehört hierher folgende gute Schrift: A. F. Fischer, Über den Vorteil und Nachteil, welchen Blutentziehungen in Krankheiten gewähren. Leipzig 1828. —