5) Kaltes Wasser kein Universalmittel
Das kalte Wasser ist keineswegs, wie Viele glauben, ein Universalmittel, denn obgleich es viele und verschiedenartige Krankheiten heilt, so passt es doch nicht in jedem Falle, ja in einzelnen macht es das Übel offenbar schlimmer. Der Dr. Ruppricht (a. a. O. S. 84 u. f.) sagt, dass die Anwendung des kalten Wassers seines Wissens auf folgende Krankheitszustände keinen wirksamen Einfluss zu haben scheine:
a) Alle diejenigen Krankheiten, die ursprünglich und unmittelbar vom Gehirn und Rückenmark selbst ausgehen. So sah er unter diesen Umständen Schwindel, nervöse Kopf- und Gesichtsschmerzen, so wie überhaupt das ganze Heer rein nervöser Schmerzen (Neuralgien), Epilepsie und andere krampfhafte Erscheinungen, Melancholie, nervöse Hypochondrie, Irresein u. s. w. der Anwendung des kalten Wassers hartnäckig widerstehen. Besonders ist dies der Fall, (worauf der Dr. Ruppricht die Aufmerksamkeit der Herren Wasserärzte zu lenken wünscht), bei allen jenen, oft so hartnäckigen nervösen Leiden aller Art, welche so ungemein häufig mit demjenigen schmerzhaften Reizzustand des Rückenmarks, der nur durch einen leichten Druck auf die Rückenwirbelsäule erkannt wird, verbunden sind oder vielmehr nur von diesem ausgehen. Sobald aber diese genannten und andere nervöse Krankheiten, obgleich immer auf einer gestörten Tätigkeit des Gehirns und Rückenmarks beruhend, nicht ursprünglich und unmittelbar von diesen Gebilden ausgehen, sondern, wenn die gestörte Tätigkeit des Gehirns und Rückenmarks erst wieder die Folge eines unregelmäßigen Blutlebens oder eines fehlerhaften Ernährungsprozesses ist, wie dies bei fieberhaften, hamorrhoidalischen, gichtischen Zuständen u. s. w. der Fall ist; so können sie alsdann durch eine den Verhältnissen angemessene Wasserkur mit dem besten Erfolg bekämpft werden.
b) Hieran reihen sich zunächst auch alle Störungen der Tätigkeit der Sinneswerkzeuge, sobald im Nervenleben derselben selbst ursprünglich der Grund der Störung zu suchen ist. Daher wird eine krankhaft gesteigerte Reizbarkeit des Auges oder des Ohrs, oder die erlöschende Sehkraft oder die Taubheit etc. sobald sie in Folge heftiger Geistesanstrengungen oder von Kummer, Betrübnis oder von anderen dergleichen das Gehirn-Nervensystem affizierenden Schädlichkeiten entstanden ist, wohl nie durch irgend eine Art der Anwendung des kalten Wassers rückgängig gemacht werden können. Ist dies aber nicht der Fall, sondern ist die Sinnesstörung erst wieder die Folge eines anderen krankhaften Zustandes des Körpers, z. B. der Unterleibsorgane, oder wird die Tätigkeit des Sinnes nur durch eine fehlerhafte Ernährung des Sinnesorgans beeinträchtigt, wie dies bei einer allgemeinen fehlerhaften Mischung der Säfte (eingewurzelte Skrofeln, Gicht, Syphilis etc.) so oft stattfindet, dann kann eine Wasserkur mit großem Nutzen angewendet werden.
c) Bei Krankheitszuständen, die mit einer fast lähmungsartigen Beschaffenheit und großer Gefühllosigkeit und Untätigkeit der Haut verbunden sind, vermag das kalte Wasser auch nichts. Deshalb legt Prießnitz in Gräfenberg mit Recht einen so großen Wert auf die Untersuchung der Haut. Denn da in den meisten Fällen die Heilkraft einer Wasserkur einzig und allein auf einer kräftig aufgeregten Hauttätigkeit beruht, so ist es natürlich, dass sie da keinen Erfolg haben kann, wo sie diese Steigerung im Leben der Haut nicht mehr hervorzurufen im Stande ist. Also überall da, wo die Haut trocken, welk, blass und kalt ist, wo kein Schweiß kann hervorgerufen werden, wo nach dem Bad keine Spur eines kräftigen angeregten Lebens in ihr sichtbar wird, wo die leise Berührung mit einem Strohhalm oder einem Federbart (Prießnitzens Art der Untersuchung) besonders an den leidenden Gliedmassen nicht mehr empfunden wird, da ist von der Anwendung des kalten Wassers wenig Heil zu erwarten.
d) Weit gediehene Entartungen der Gewebe der verschiedenen Gebilde des Körpers, sobald sie den entzündlichen oder den auf Blutandrang beruhenden Charakter gänzlich verloren haben, z. B. alte Verhärtungen der Leber, des Gekröses, dergleichen Drüsenverhärtungen, Lungenknoten u. s. w. Diese Zustände und die daraus hervorgehenden Beschwerden und Gesundheitsstörungen, sind für die Wasserheilkunst eben so unzugänglich, wie sie es auch für jedes andere Heilverfahren sind (Ruppricht l. c. p. 86). Da aber, wo eine Rückbildung dieser Entartungen nur im Entferntesten noch kann erwartet werden, da wird der, durch die Wasserkur hervorgerufene, tief ins Innere des Lebens dringende, allgemeine Umstimmungsprozess, dies eher, als jedes andere Heilmittel, noch zu leisten im Stande sein. Weit vorgeschrittene Lungen- und Kehlkopfaffektionen haben ihn (Dr. R.) einige Mal davon überzeugt, „und wenn es auch einen Grad dieser Leiden gibt, welchen das kalte Wasser eben so wenig, als irgend ein anderes Mittel zu überwinden vermag, so habe ich doch“ — sagt Ruppricht (a. a. O. 86) — „in dieser Beziehung da noch Heilung erfolgen sehen, wo sie wohl schwerlich auf einem anderen Wege wäre herbeigeführt worden und zu erwarten stand.“ Er führt einen interessanten Fall davon bei einem 20jährigen Fräulein an.