Der Kleinstadtphilister
Spitzweg hat sie gemalt, der alte Maler Spitzweg: wie sie mit der weißen Zipfelmütze und einer langen, langen Pfeife zum Fenster heraushängen, am Schlafrock baumeln die Quasten, und geruhig und bedächtig sieht sich ein kleiner Dickbauch mit kugelrunder Nase sein Weltbild an. Der Hund am Eckstein, der Posten mit dem Schießgewehr, das Dienstmädchen mit dem Marktkorb – das ist seine Welt. Und er kennt nur das eine: dass sie ihm so, genau so, wie er sie seit Kindesbeinen gewohnt ist, erhalten bleibt, jede Störung scheint ihm ein Verbrechen. So hat sie der alte Maler Spitzweg in den mittleren Jahren des vorigen Jahrhunderts dargestellt, und heute lacht jeder Ausstellungsbesucher über die putzigen Figuren.
Der Philister der modernen kleinen Stadt ist ein faul gewordener Polizeihund gegenüber jenen alten Pudeln und Möpsen. Nun besteht das Wesen des Philisters vor allem darin, dass er nicht weiß, wie sehr er zur Gattung gehört, und dass er sich einbildet, sein eingelernter Kram von Fortschritten der Technik, Geschichtsdaten, Zeitungsnotizen und geschäftlichen Handgriffen sei etwas Rechtes. Diese Gattung hat vor allem immer in Deutschland geblüht, wo unter Wilhelm der handgreifliche Erfolg alles und das Herz nichts war.
Der Philister der modernen kleinen Stadt ist unduldsam und hartköpfig. Was da allabendlich in die gleichförmigen langweiligen Bierhäuser, in diese unpersönlich eingerichteten Stammtischzimmer rollt, will nichts von der fremden Welt wissen und weiß nichts von ihr. Es ist heute so weit gekommen, dass diese Leute eigentlich nur einen wirklichen Feind haben: den Arbeiter. Es ist nicht nur Geldinteresse, das diese Leute bewegt, den Arbeiter zu bekämpfen, es ist auch jene grauenhafte deutsche Art, das eigene Wesen nur durch Verachtung der andern zur Geltung zu bringen. Hätten alle den weißen hohen Kragen, säßen alle am Stammtisch wie er, würden alle mit »Herr Kalkulator« angeredet –: das Leben machte ihm keinen Spaß mehr. Welche Glatzköpfe! Welche Gespräche an diesen Stammtischen, um die sich prall nationale Hosenboden wölben! Welches Tempo, in dem sich ein stumpfsinniger Einfall schwerfällig in die Runde wälzt! Unbelehrbar die Gehirne, stumpf die Augen, niedrig die Stirnen. Das Lebensgefühl dieses Volkes ist völlig verrostet: sie haben zu Feld, Wald und Wiese kein Verhältnis mehr, so wie sie zu den Frauen und zum lieben Gott keines mehr haben. Alles, was auch nur ein bißchen das Gebiet des bloßen Geldverdienens überschreitet, ist mit einer lächerlichen Romantik überkleistert, ist verlogen und zutiefst unwahr. Noch glauben sie alle, ›deutsches Wesen‹ zeige sich in jener alten romantischen kleinen Stadt, die es nur auf ihren Holzschnitten, aber nie in der Wirklichkeit gegeben hat.
Am allerschlimmsten aber ist, dass sich bei dem größten Teil dieser deutschen Philister die nationale Politik als eine gute Manier von selbst versteht. Und das Schlimme, dass diese und ihre Presse in Unparteilichkeit macht, wo unduldsamste und härteste Partei ist. All jene Inserats-Unternehmen, all jene General-Anzeiger haben nur ein einziges Bestreben: beim Spießer nicht anzuecken und das selbstverständlich auf der Grundlage einer stramm nationalistischen Politik. So ist jede Lokalnotiz, jede Überschrift gefärbt, so sind Unterhaltungen, Telefongespräche und Briefe. Wären es noch klumpige Landsknechte! Es sind Sechsundsechzig-Klopper, die sich nicht viel dabei denken, wenn sie Hurra schreien, und die sich nur etwas denken, wenn es an den Geldbeutel geht.
Frauen sind Spiegelbilder des Mannes. Was willst du von jenen erwarten, die seine Kinder in die Welt setzen und die den lieben langen Tag mit kleinlichsten Hausfrauenarbeiten, die sie maßlos überschätzen, zu tun haben, mit billigem Putz, Rangstreitigkeiten und Klatsch. Diese Frauen bewirtschaften nicht das Haus – das Haus bewirtschaftet sie. Das Dienstmädchen ist ›aus niederem Stande‹.
Und so die Frauen. Und so die Kinder – also die nächste Generation. Und so das Leben all dieser Hunderttausende des kleinen deutschen Mittelstandes, dessen ganzer Ehrgeiz befriedigt ist, wenn der Sohn Beamter werden kann und einen Titel hat, der auf Vater abfärbt … und so das Leben in den kleinen Städten, die auf Berlin schimpfen und es anschielen, um es nachzuahmen … und so seine sittliche Verlogenheit, die den Beischlaf nur als Zote kennt und die ein Haus rein hält, um eine ganze kleine Gasse mit roten Laternen zu beschmutzen.
Erneuerung eines Volkes liegt nicht in politischen Programmen. Wie viele Arbeiter heute noch verhinderte Unteroffiziere und sehnsüchtige Bürger sind, wissen Proletarier am besten. Erneuerung eines Volkes liegt nicht in Mord und Totschlag, liegt am allerwenigsten bei Ludendorff und anderen uniformierten Verbrechern – sie liegt in euch.
Wenn ihr, junge Leute, euch darauf besinnt, dass die Stunden im Jünglingsalter, wo man glaubte, die Welt einrennen zu können, die besten waren, wenn ihr glaubt, dass man die Welt wirklich einrennen kann, so ist eine kleine Gewähr gegeben, dass die nächste Generation dieses Landes Menschen gebiert. Verachtet jene, lernt sie begreifen und vergeßt die Forderungen eurer Jugend nicht!
Spott und Hohn über jene ewigen Käsehändler der kleinen Stadt nützen nichts: der, der darüber lacht, gehört meist dazu.
Vor den Fenstern des Städtchens ist in vielen braven Bürgerwohnungen ein kleiner Spiegel, »Spion« genannt. Man kann damit – für viele das halbe Leben – sehen, was die anderen machen. Wollt ihr einen lebendigen Philister sehen? Seht in den Spion, da geht einer.
Ignaz Wrobel
Volkszeitung für die östlichen Grenzlande, 08.10.1920.