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Die Papiere

Neulich las ich in der »Kreuzzeitung« einen längeren Reklameartikel, der den jungen Deutschen die Herrlichkeit einer Reichswehrsoldatenlaufbahn erklärte. Abgesehen davon, dass darin stand, die Haupttugend des republikanischen Soldaten sei der Gehorsam (Vater Geßler! Geheiligt werde Dein Name! Amen) – war aufgezählt, was der Soldatenaspirant vor seinem Antritt alles für Papiere vorzulegen hätte. Es waren herrliche Sachen dabei. Militärpapiere, Geburtsbescheinigungen, Polizeipapiere, Papiere, Papiere, Papiere … Was soll das alles?

Der Reklameartikel verlangte von den Papieren, dass sie den Lebenslauf des einzustellenden Soldaten »lückenlos« erzählten. Was soll das alles?

Die hohe Obrigkeit hat mit ihrem Papierfimmel ein ganzes Land angesteckt. Jeder Unternehmer, jeder Haushalt, jeder Arbeitgeber kann sich gar nicht mit der Vorlage von Papieren genug tun. Man muß den heiligen Ernst sehen, mit dem der Prüfende die gestempelten Papiere auseinanderfaltet. Ein Papier, das nicht gestempelt ist, ist überhaupt keins.

Es ist einmal die lächerliche Abneigung vor sogenannten »vorbestraften« Leuten, die diese Papiersucht großgezogen hat. Nun kann nicht oft genug wiederholt werden, dass die Tatsache einer deutschen gerichtlichen Bestrafung zunächst gar nichts heißen will. Dieser Staat hat so viele und so lächerliche Vorschriften erlassen, dass es ein großes Wunder ist, nur ein Sechstel seiner Gesamtbevölkerung – also von 60 Millionen 10 – bestraft zu sehen. Jeder kleine Dorfschulze läßt einen Paragraphen auf die Tafeln pappen, um die Notwendigkeit seiner eigenen Existenz darzulegen. Da die meisten dieser Paragraphen überflüssig und viele schädlich sind, so werden sie natürlich übertreten, manche Übertretung kommt heraus, und drei weise Männer des Gerichts verdonnern den Missetäter. Oder einer hat in einer augenblicklichen Notlage geklemmt, um zu essen – und das hängt ihm nun sein ganzes Leben lang an. Er ist nun vorbestraft. Und hat einen Klecks in den Papieren. Und mit hochgezogenen Brauen lesens die Arbeitgeber und Markthallenfrauen …

Das wäre also die eine Furcht, der Mann, der da vor dem Arbeitgeber steht, könne einmal in seinem Leben gesessen haben. Der Kenner des preußischdeutschen Justizbetriebes kann da nur froh sagen: »Na wenn schon!« Diese Richterurteile schaden viel, aber sie wiegen wenig.

Der zweite Grund, von jedem Menschen bei jeder Gelegenheit Papiere zu verlangen, liegt in einer ekelhaften kleinbürgerlichen Neugier. Das alberne Meldewesen in Deutschland, das Zehntausende von Schreibern beschäftigt und Millionen von Einwohnern plagt, ist eine Überflüssigkeit, die kriminalistisch noch nie genutzt und kulturell immer nur geschadet hat. Dein Portier muß zum Beispiel wissen, wie du es mit der Religion hältst, das Fremdenbuch im Hotel hat viele schöne Spalten, und die verhinderten bayrischen Monarchisten behandeln augenblicklich alle Preußen als Ausländer, indem sie ihnen eine Meldepflicht auferlegen, die ungefähr an diejenige spionageverdächtiger Ausländer im Jahre 1914 erinnert.

Durch das ganze Getriebe der Papiervorlegungen in Deutschland geht der muffige Geist widerwärtiger Gesinnung des Obrigkeitsstaates. Der schnauzbärtige Gendarm, der auf alten Bildern den armen Handwerksburschen anherrscht, ist kein Holzschnitt, sondern Wirklichkeit. Ganz abgesehen davon, dass zum Beispiel die Spalte »Religion« nach der Reichsverfassung niemals ausgefüllt zu werden braucht (und es sind Fälle denkbar, wo einem sein protestantisches oder mosaisches Religionsbekenntnis schaden kann) – ist dieser ganze Glaube an die allmächtige Wahrheit der Papiere überholt und lächerlich.

Wie entstehen sie denn?

Das Papier möchte ich in Deutschland sehen, das ich mir bei einigermaßen guten Beziehungen nicht verschaffen kann. Es ist wie beim Militär: die ungeheuerlichsten Schutzvorschriften türmten sich vor Antritt eines Erholungsurlaubes, vor Empfangnahme eines Paar Stiefelsohlen, vor Einlieferung in ein Genesungsheim auf. Und wie wurde es gemacht? War man geschickt und gut angeschrieben, so sprach man mit dem, der solche Papiere auszustellen hatte, ein paar freundliche und manchmal auch inhaltsschwere Worte – und siehe da: auf einmal hatte man alles.

Denn das weitaus Widerlichste an der preußischen Korruption im Gegensatz zur russischen ist, dass sie verlogen legalisiert wird. Nach den Akten, Zeugnissen und Papieren ist immer alles in Ordnung. Aber wie die Papiere entstanden sind, danach fragt kein Mensch.

Die erzwungene Vorlage von Bescheinigungen und Zeugnissen ist, wäre sie nicht schädlich, belachenswert. Diese stumpfsinnige Bureaukratie glaubt dem lebenden Steuerzahler nicht, dass er geboren ist. »Das kann jeder sagen!« Papiere, Papiere! Drückte man früher einem lieben Gestorbenen sanft die Augen zu, so schreiben sich heute die Familienmitglieder am Totenbett die Finger krumm, damit jeder Brillenmensch von Assessor seine Schmierage auf dem Bureautisch vorfindet. Papiere, Papiere! Die Heldenbrust des grün-blauen Wachtmeisters wölbt sich höher, wenn er Papiere verlangen oder bestempeln darf. Man hat im großen und ganzen den Eindruck, in einem staatlichen Hengstgestüt zu leben: jedermann bekommt seinen Stempel auf den Hintern, und nur dann mag es ihm erlaubt sein, zu leben. Dieser von stellungsgierigen Offizieren und Großindustriellen terrorisierte Staat, der als »Republik« firmiert, hat den Papierwahnsinn nicht abgeschafft, sondern zur Blüte gebracht.

Er ist aber nicht nur spaßhaft. Er ist auch ungemein schädigend. Kriegsverletzte können vor Krankheit krepieren: wenn sie nicht ihre Papiere vorgelegt haben, dann sind sie, wie der Berliner so schön sagt: »Neese«. Mag doch so ein von Ludendorff ruinierter Stumpf von Amt zu Amt krauchen – Papiere, Papiere! Millionen, die nach Verdienst schreien, bekommen keine Arbeit, aber vom Magistrat einen Fragebogen, auf dem sie zu beantworten haben: wo ihre Großmutter väterlicherseits die Windpocken auskuriert, und ob ihre Frau Tante mit mehr als drei Männern jährlich die Ehe gebrochen hat, und wann der älteste Sohn zum Offizierstellmacher befördert worden ist. Ohne das gehts nicht. Man muß sich nur diesen ganzen Irrsinn einmal durchdenken: ein satter und für seine Schreibarbeit überzahlter Assessor denkt sich so ein Monstrum von Liste aus, strahlt, weil er dafür Regierungsrat werden kann, und bedenkt nicht, dass die armen Menschen, die sie ausfüllen sollen, meist nicht die Tinte und niemals die Lust dazu haben. Aber es ist ein Papier zur Vorlage mehr da!

Der Papierwahnsinn schreckt vor nichts zurück. Lebensgefahr und Unfall gibt es für ihn nicht – Kassenarzt, Wachtmeister und Regierungsassessor bestehen auf ihrem Schein und ihren Scheinen. Papiere, Papiere!

Der Glaube an den Stempel ist beinahe so groß wie der an das Militär. Und das will etwas heißen.

Ihr ersauft in Papier, und bevor sich nicht alle – und nicht nur die Obrigkeit allein – von dem Glauben an diese Lappen frei gemacht haben, wird dieses Land das am besten registrierte und das am schlechtesten regierte sein.

Lieben Freunde! Ihr habt polizeiliche Meldeformulare, abgestempelte Lebensläufe, Führungszeugnisse, Militärpässe, Bescheinigungen, Zensuren. Papiere, Papiere … Wißt ihr, was ihr damit machen könnt –?

Schneidet sie fein säuberlich in viereckige handliche Blätter, piekt sie auf einen Nagel und – – Wie?

Ignaz Wrobel
Freiheit, 03.12.1920, Nr. 513, S. 2.