Erinnerung für die Wahl
»5. Oktober 1917. Kalbsbrühe – Kalbsschnitzel in Aspik -Lendenschnitten – Grüner Salat und Bratkartoffeln – verschiedene Gemüse – Gefüllte Omelettes – Butter und Käse – Trauben – Belegte Brötchen – Weine – Sekt – Bier. Menü der Hindenburg-Feier im – – Lazarettkasino.«
Was das ist? Das ist ein Auszug aus dem Tagebuch eines Krankenpflegers, das unter dem Titel »Der Etappensumpf« (mit einer schauerlichen Titelzeichnung) im Verlag der Jenaer Volksbuchhandlung, Jena, Teichgraben 4, erschienen ist.
Was das ist? Dieses Heftchen ist eine Erinnerung aus der großen Zeit. Und Erinnerungen sind manchmal sehr gesund, besonders vor so einer Wahl.
Ich habe das Heft in einem Zuge heruntergelesen, und auf jeder Seite entschlüpfte mir der Ausruf: »Aber das sind ja wir! Das war ja genau wie bei uns! Das sind wir! Das sind wir!« So lebten sie alle Tage.
Dieses Gemisch aus Streberei, Ordensschiebung, Urlaubsverweigerung, Huren, Saufen und Fressen, dieser ekle Brei von Monokelleutnants der trübsten Etappe (wenn man den Versicherungen der aktiven und der Reserveoffiziere Glauben schenkte, so gehörten die Etappenoffiziere keinen von beiden an) – diese Suppe aus Roheit, Mannschaftsfresserei und Dünkel – das war die alte kaiserliche deutsche Armee.
Erinnert euch!
Erinnert euch! Es gilt ja nicht mehr für fein, vom Krieg in dieser unbequemen Art zu sprechen, wie wir es hier tun – es gilt nicht für taktvoll – man dürfe das nicht, mit Rücksicht auf das Ausland, sagen sie. Aber tun durfte man es, mit Rücksicht auf das Ausland, nicht wahr? Und diese vier unvergeßlichen Jahre, diese schwarzen Flecke in unser aller Leben – davon darf nicht mehr gesprochen werden, weils schief ausgegangen ist? (Wärs gutgegangen, so hätten sie uns hundert Jahre lang mit patriotischen Büchern überschwemmt.)
Wir wollen sprechen. Wir haben vier Jahre lang schweigen müssen – jetzt wollen wir sprechen. Wir wollen diese ungeschminkten Heftchen auf dem elenden Papier, diese armseligen Aufzeichnungen ohne schriftstellerisches Geschick, diese Wahrheiten – wir wollen sie immer wieder ans Licht holen, unermüdlich, unverdrossen tausend und tausendmal. Erinnert euch!
Die schlechte Luft, die aus diesem Buch aufsteigt – wie macht sie die Vergangenheit lebendig! So war es, genau so. Die traurige Rolle, die deutsche Ärzte dabei spielen, diese Offiziere, die nachts bei den Krankenschwestern und Küchenmädchen schöntun und tags bei den Mannschaften so gar nicht schön – wie bekannt kommt uns das alles vor! Lests. Lests.
Und das soll alles vergessen sein? Es sei nicht vergessen. Es sei gerade heute nicht vergessen, heute, so kurz vor der entscheidenden Wahl zum ersten deutschen Reichstag.
Ihr müßt selbst wissen, wen ihr wählen wollt. Aber einen dürft ihr nicht wählen: das ist der, der euch den Jammer eingebrockt hat, das ist der, der ihn vier Jahre lang wonneschmunzelnd auskostete, indes euch vor Wut die Zähne knackten, das ist der, der euch dünne Dörrgemüsesuppen und dicke Phrasen zu fressen gab – das ist der Deutschnationale. Und sein Bruder: der deutsche Volksparteiler.
Wählt. Und seid ihr Soldaten gewesen: erinnert euch!
Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 05.06.1920.