Zum Hauptinhalt springen

Gehaltsempfänger

Die meisten Menschen in diesem Lande sind gar keine Menschen, sondern Gehaltsempfänger. Sie sehen alle Dinge vom Standpunkt ihres Amtes aus und haben für die Nöte anderer wenig Verständnis. Schwer lastet auf diesem Volke die wirtschaftliche Not; schwerer seine Bureaukratie.

Seit Jahrhunderten ist in Deutschland auf dem Papier alles in Ordnung. Tief wurzelt im Preußen, der bisher die größte Schnauze im Reich repräsentierte, der Drang, durch geschriebene Paragraphen des praktischen Lebens Herr zu werden. Seine Befehle waren meist nur Wünsche. Schmuggel? Unrechtmäßiges Abfließen der Waren von einem Wirtschaftsplateau auf das nächst tiefere? Das verbieten wir. Wir spüren nicht den Ursachen des Schmuggels nach, kümmern uns nicht um das Wesen derer, die dies gefährliche Handwerk betreiben – wir verbietens. Dann ist der Schmuggel nicht mehr auf der Welt. Erschossene Schmuggler … ? Wenn Übergriffe untergeordneter Organe vorkommen, so ist die Aufsichtsbehörde nach Maßgabe der bestehenden Bestimmungen nicht für dasselbe verantwortlich zu machen … Welch preußische Melodie!

Vier Jahre lang hat die von Ludendorff reklamierte und mit dem weiß-schwarzen Bändchen dekorierte Presse geheult: Organisieren! Das können wir! – Ich will euch etwas sagen: Ihr habt keinen Schimmer davon. Alles, was ihr organisiert, ist vom Beamten her gedacht, niemals für den Benutzer. Ihr aalt euch wohlig in der Tatsache, dass ihr mit staatlichen Mitteln, die euch nichts kosten, herumwirtschaften könnt – ihr kommt euch mächtig vor, und wenn alles fertig organisiert ist, haben wir einen Haufen Gehaltsempfänger und einen Dummen: das Publikum.

Es liegt tatsächlich so, dass die Bedürfnisse des praktischen Lebens, die sich ja immer trotz der preußischen Beamten gebieterisch Bahn brechen, heute nur noch durch Schiebung zu erfüllen sind. Früher waren die Kommunalbehörden darin ein wenig besser als die staatlichen – heute braucht man nur die Amtsführung unserer Stadtbehörden anzusehen, um sich zu wundern, dass die gepeinigte Bevölkerung in ihrer Wut nicht alles kurz und klein schlägt. Das ist eine Temperamentssache, und wir sind in Norddeutschland. Grund genug wäre vorhanden.

Der einzelne Beamte ist weder ein Blutsauger noch ein gemeiner Hund, als der ihn der verärgerte Arbeiter leicht anzusprechen geneigt ist. Er ist ein Gehaltsempfänger. Die Leute sind durch jahrhundertelange Tradition, durch die deutsche Familie, durch die deutsche Schule so erzogen, dass sie kein Gefühl mehr dafür haben, wie sehr doch der ganze staatliche Apparat durchaus nicht um seiner selbst willen, sondern für den einzelnen da ist. Der Glaube an ihre Bestimmungen, die uns gar nicht interessieren, ist ehern. Neulich sagte mir am Alexanderplatz ein Klempner, dem es so erbärmlich geht, dass Frau und Kinder wie die Tiere in einem Kellerloch hausen: »Meta ist fort. (Meta war die elfjährige Tochter.) Sie ist nach dem Gesundbrunnen in die Kohlenstelle, wo wir angemeldet sind. Da soll sie aus einem Geschäft einen halben Zentner Kohlen herfahren!« Nun stelle man sich das vor: Das unterernährte, in Lumpen gekleidete Mädchen keucht und friert sich einen halben Tag durch die berliner Straßen, und das nur, weil irgendein Schafskopf von Beamter zu faul oder zu unintelligent ist, einen seiner 2000 Paragraphen zugunsten dieses Falles auszulegen. Der Mann hat vielleicht selbst Frau und Kinder zu Hause und würde sich mit Recht schwer entrüsten, wenn jemand mit ihm so spielte. Aber die andern? Auf den Gedanken kommt er gar nicht. Er erledigt von neun bis drei seine Amtsgeschäfte nach Schema F, und so ist denn niemand mehr für die »Bestimmungen« verantwortlich: der nicht, der sie gemacht hat, und der nicht, der sie ausführt. Schuld sind beide.

Wenn sich nicht dieses gequälte, arbeitslose und immer am Verhungern vorüberstreifende Großstadtvolk durch Taten, die der gebildete (und satte) Normaljurist als »strafbar« bezeichnet, weiterhelfen würde: die Leute könnten nicht leben. Ein halber Tag vergeht, wenn man all diesen Bestimmungen wirklich nachkommen wollte. Ich sehe ganz von dem Kasernenhofton ab, der in einzelnen Bureaus und besonders bei der in dieser Beziehung schlecht disziplinierten grünen und blauen Polizei herrscht – ich halte mich nur an die Tatsachen. Und das allerschlimmste ist, dass diese verrotteten Regierer wissen, dass sich kein Mensch an diese Bestimmungen halten kann, weil sie unausführbar sind. Sie melden aber nach oben munter weiter, dass sie die Paragraphen verfügt haben, und für den Oberregierungsrat ist dann alles in Ordnung. In Wirklichkeit stinkts zum Himmel.

In Wirklichkeit liegts so, dass diese tausend Fettversorgungsstellen, Mieteinigungsämter, Fürsorgeausschüsse usw., usw. – dass alle diese der geplagten Bevölkerung wie eine Faust im Nacken sitzen. Ratlos irren zwischen diesen Dienststellen die gepeinigten Mütter und Hausfrauen hin und her. Man scheucht sie von einer in die andere. Geholfen wird ihnen nirgends.

Lügt nicht. Lügt nicht. Ihr könnt mit all eurer Staatsautorität nicht einmal erzwingen, dass der Landmann so viel abliefert, wie die Großstadt benötigt. Ihr spielt: Staat. Und seid in Wahrheit machtlos. Es langt gerade zum Schikanieren.

Die Tatsache, dass heute in Berlin alles, aber auch alles ohne weiteres für Geld zu haben ist, erbittert den Mittellosen nur noch mehr. Er fühlt deutlich, dass das Gewurstle, das sich da um seinen Viertelliter Milch für das Neugeborene auftut, gar nicht nötig wäre, wenn er sich unter Umgehung von Dienststelle und Vorschrift das Nötige anderweitig besorgt. Blast euch nicht auf: man kann sichs jeden Tag in Berlin besorgen. Auch ohne euch.

Das wahre Leben geht über diesen schmutzigen Wust einer verstaubten Staatsspielerei hinweg. Es kümmert sich den Teufel um euern Kram von Paragraphen, Bestimmungen und Instanzen. Ihr regiert? Ihr quält die Kleinen. Die Großen lachen euch aus.

Was ist heute der Staat? Der Staat ist das summierte Interesse seiner Gehaltsempfänger.

Und keine Erkenntnis scheint denen gefährlicher als diese eine: Es ginge auch ohne sie.

Ignaz Wrobel
Freiheit, 11.11.1920, Nr. 476, S. 7.