Zum 9. November
Mein entfernter Bekannter Theobald Tiger könnte mit Leichtigkeit zu diesem Erinnerungstage einige Verse brummen – aber es ist nicht an dem. Kein Grund zum Jubilieren. Eher zum Grimmigsein.
Was ist gewesen? Ein System, das nicht mehr einen Schritt krauchen konnte – brach zusammen. Die Führer desertierten oder verkrochen sich. Die deutsche Welt hielt den Atem an. Einen Tag. Zwei Tage. Aber dann kamen sie aus allen Löchern gekrochen …
Ganz abgesehen von dem ungeheuren Fehler, daß man die Konkursverwaltung einer Pleitefirma übernahm und nun von den getäuschten deutschen Gläubigern alle Vorwürfe einzuheimsen hatte, die der alten Schwindelgesellschaft zukamen – warum hat man die alte kaiserliche Regierung nicht ihren Frieden abschließen lassen? –, ganz abgesehen davon: was waren das für Revolutionäre? Die tiefste Sehnsucht des Volkes war geweckt – aber nichts wurde davon befriedigt. Emil Barth hat in seiner lesenswerten Broschüre »Aus der Werkstatt der Revolution« einiges von diesen Männern erzählt. Gerechter Himmel! Welche Spießer der Barrikade! (Barrikaden gabs kaum. Sie sind im preußischen Allgemeinen Landrecht nicht vorgesehen.) Und der Kampf des Jahres 1919 war ein Bruderkampf, in dem die Reaktion erstarkte, erstarkte – bis sie heute wieder obenauf ist. Und das nicht ohne tatkräftige Mitwirkung des Oberpräsidenten Noske.
Hat sich etwas gewandelt? Was krähen die Süddeutschen, was schreien die Orgeschleute, was brüllen die Studenten? Sie haben doch alles. Alles: die Verwaltung, die den paar nach oben gespülten Ministern niemals richtig gehorcht hat, die Rechtsprechung, zu der wir in politischen Prozessen kein Vertrauen mehr haben, die Gesetzgebung, und das gefördert durch eine Wahl, wo der durch Bolschewistenplakate geängstigte Kleinbürger, von den Demokraten angefangen, alles scheel ansah – sie haben alles. Und wir können von vorn anfangen.
Und wir müssen da anfangen, wo wir 1914 aufgehört haben, und vielleicht noch früher.
Ihr werdet begreifen lernen müssen, dass mit Vorschriften, neuen Reglements über Betriebsräte, neuen Paragraphen, neuen Verordnungen allein noch gar nichts getan ist. Es ist eine Herzenssache, die hier abgehandelt wird. Und solange sie alle kalt, unverändert, mit dem preußischen Glauben an die plumpe Gewalt, ungeistig und stur an die Dinge herangehen –: so lange ist nichts zu machen. Räumt in den Familien auf, in den kleinen Konferenzzimmern der Schulen, unter der Kundschaft der Kolonialwarenläden, in den Portierslogen – da ist Arbeit –!
Macht eine lang andauernde Revolution: die Revolution des kleinen Mannes!
Und denkt mit altem Haß an jene vier Mordjahre kaiserlicher Prägung – an Jahre der Lüge, der Gewalttat, des Offizierrausches, der deutschen Erbkrankheit: des hemmungslosen Sadismus, der sich hinter der Vorschrift duckt. Kennt ihr nicht alle mindestens einen heimlichen Unteroffizier in Zivil? wenigstens einen sehnsüchtigen Wachtmeister? Verhinderte Menschenschinder? Und nicht alle sind verhindert.
Denkt an diese Jahre und spuckt einmal kräftig aus, wenn sie euch mit den alten Lügen kommen, die euch feiern sollen und in Wahrheit euch nur wieder demütigen werden. Denkt daran und an jenen Novembertag, an dem sich beinahe – beinahe! – das deutsche Geschick erfüllt hat …
Und arbeitet unverdrossen für einen neuen Tag, der ohne Blutvergießen und Gewalt jenes Reich heraufführen soll, das uns allen vorschwebt und das wir alle lieben: ein neues Deutschland –!
Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 09.11.1920, Nr. 514, S. 2.