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Neue Sorgen der Bourgeoisie

Modedummheiten und Auswüchse der Mode hat es immer, in allen Schichten und zu allen Zeiten gegeben. Aber was die Modetorheiten vor allen andern so auszeichnet, ist, dass sie viel Geld kosten, Lebensenergien verschwenden und doppelt und dreifach aufreizend auf die wirken, die nicht das nötige Brot zum Leben haben. Nichts versinnbildlicht so die kapitalistische Gesellschaftsordnung wie einer dieser großen Ozeanriesen: unten schuftet bei Höllenglut der Trimmer am Kessel, unten liegen zusammengepfercht in schlechter Luft, bei Unglücksfällen am schnellsten von den Rettungswegen abgesperrt, die Leute vom Zwischendeck – und oben runzelt einer unzufrieden die Stirn, weil eine Granatfrucht nicht so geeist ist, wie er das wohl erwarten darf: Der Querschnitt durch so ein Schiff ist recht lehrreich.

Nun will ja jeder gescheite Gesellschaftsreformer die Nivellierung nach oben: das heißt, es soll allen nicht gleichmäßig schlecht, sondern allen gleichmäßig gut gehen. Und man muß bei den Modetorheiten wohl unterscheiden, was übermütiger Spieltrieb ist, der nur fehl am Ort arbeitet, und was aufreizende Vergeudung darstellt.

Die ernsthaften Untersuchungen über irgendeinen neuen Dreh des Tanzbeines sind kaum noch zu belächeln, weil wir wissen, dass drei Straßenzüge vom Tanzsaal aus Kinder an Tuberkulose in Ungepflegtheit und Not zugrunde gehen. Die falsche Verteilung und Überproduktion von Luxusartikeln ist kaum noch zu belächeln, weil wir wissen, dass Seide und Wolle, hier zum Putz um den Hals einer Schönen gelegt, dort Arbeiterfrauen vor der Kälte schützen könnten. Ein Haus brennt, und es ist kein Wasser da, weil sich die Leute in der Nachbarschaft mit dem Wasser einen Grog brauen …

Die Dame, die sich eine Rose auf den Arm malt (wenn sich das etwa einbürgern sollte – was könnte man sich da nicht alles bemalen!), die Frau, die sich zur Abwechslung einmal den Rücken dekolletiert – sie alle sind Beispiele für die Langeweile der Satten. Und die Hungrigen schreien …

Wer keine Sorgen hat, der macht sich welche. Die Plutokratie aller Länder ist sich in einem ganz und gar einig: in den Sorgen ihrer Sorglosigkeit.

iwr.
Freie Welt, 15.08.1920, Nr. 30, S. 5.