Ein Schrei aus der Not
Der Graf Harry Keßler hat die Kinderhöllen in Berlin fotografiert: das sind die Wohnungen der nicht einmal immer arbeitslosen Proletarier aus den Arbeitervierteln Berlins. »Wo Wohltätigkeit einsetzt, da ist im Staate etwas nicht in Ordnung«, sagt Multatuli. Und dass die Sammlungen für die Kinder keine sozialen Probleme lösen, ist gewiß. Aber wer diese Not einmal gesehen hat, wie ich, der weiß, dass jeder anständige Mensch in solchem Falle sofort nach der Brieftasche greift. Es ist die augenblickliche Reaktion auf einen solchen Anblick. Leere Räume und kalte Räume und rachitische Kinder und skrofulöse Kinder und Kinder, die den ganzen Tag überhaupt nicht ausgehen können, weil sie bis auf einen dünnen Kittel ganz nackt sind, und Frauen und Kinder, die krank und schmutzig in einer kalten Wohnung dunkle Winterwochen lang hocken, zwecklos, sinnlos, der Organismus nimmt den dünnen Nahrungsbrei auf, scheidet ihn wieder aus, wozu? wozu? Keiner hat ein Bett für sich allein. Sieben, zehn, dreizehn Menschen schlafen in einem Raum, in den kein Agrarier seine Schweine hineintreiben würde. Ein Säugling lag in einen langen Lumpen gewickelt, das war seine Wäsche. Wally und Willy, acht und sieben Jahre alt, haben wir gemessen: sie waren 90 Zentimeter hoch. Kümmerliche Ordnung, der kümmerlich aufflackernde Wille, nicht zu verlausen. Und alles vergebens. Der Friedenskram an den Wänden zerbröckelt. Neuen kann man nicht kaufen. In aller Augen: Es hat ja doch keinen Zweck. Die glücklichen Kinder sterben. Die andern tun so, als ob sie leben.
Es gibt ein Konto bei der Bankfirma S. Bleichröder, Berlin W., Behren-Straße 63. Das heißt: Konto Kinderhölle.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 09.12.1920, Nr. 50, S. 686.