Die Obdachlosen
Im städtischen Asyl für Obdachlose zu Berlin hat es neulich Spektakel gegeben: »Eine Rotte halbwüchsiger und älterer Asylisten drang ein … « – »Sicherheitswehr säuberte … « – »Die Beamten hatten alle Hände voll zu tun … «
Als vor Jahren der holländische Journalist Heijermans, als Penner verkleidet, das Asyl für Obdachlose aufsuchte und seine Erlebnisse im Berliner Tageblatt beschrieb, brauste jener wehmutsvolle Mitleidssturm durch die Bürgerherzen, der allemal dann säuselt, wenn es zu spät ist. Er legte sich auch bald wieder. Denn die städtische Verwaltung schickte Berichtigungen, und es brach, glaube ich, ein großer Zank aus, wieviel Handtücher den einzelnen Asylisten zuständen – aber dann war doch alles gut und erledigt, und niemand dachte mehr an das Asyl für Obdachlose.
Was allabendlich an dem großen Gebäude zusammenquillt – wären es keine Menschen, sondern nur Kleidungsstücke, man hätte sie längst fortgeworfen. Viele sind dabei, die wollen noch arbeiten – viele wollen gar nicht mehr, weil sie nicht mehr können. Schlag du dich mit preußischen Behörden und ihren Paragraphen herum, bis du nach wochenlangem Herumsitzen und Warten auf den schmutzigen Korridoren und Anschnauzern und Herumgeschicktwerden 22,64 M. in Händen hältst. Und dann? Dann kannst du wieder von vorn anfangen.
Oben laufen die großen Maschinen, und unten fällt die Menschenschlacke heraus. Damit oben einer wohlleben kann, leiden unten zehn, zwanzig, hundert. Und wenn auch unbestritten ist, dass es Menschen gibt, die immer sinken, auch unter den günstigsten Umständen, wenn es auch selbstverschuldetes Unglück gibt und Veranlagung und schlechtes Blut – so viel davon, wie allnächtlich der Besen der Not ins Asyl kehrt, gibt es nicht ohne fremde Schuld.
Diese da sind nicht einfach so. Sie sind geworden. Der Bürger aber (und zum Bürger gehört immer einer mehr, als jeder denkt) sieht die Dinge nur statistisch: das heißt, er sieht den Zustand, nicht die lebendige Bewegung, die ihn herbeigeführt hat. Und ist also unfähig, vorzubeugen.
Und ist es wohl auch, weil er fürchtet, ihm könne etwas abgehen, und soviel Platz sei nicht auf dem besetzten Schiff. Das ist es nicht, wenn einer allein auf dem Sonnendeck sich rekelt. Und im Zwischendeck wimmeln Hunderte.
Was immer die neue Stadtverwaltung für das Asyl tun möge – und hoffentlich wird sie recht viel tun –, nichts kann jene ungeheure Schuld sühnen, die diese Leute zu dem gemacht hat, was sie sind.
Peter Panter
Freiheit, 02.10.1920, Nr. 415, S. 2.