Deutlichkeit. (Schöne Künste) Wir nennen diejenigen Gegenstände unserer Erkenntnis deutlich, in denen wir das, was ihre Art oder Gattung bestimmt, klar unterscheiden können. Ein Gebäude fällt deutlich in die Augen, wenn seine besondere Beschaffenheit, wodurch wir es für eine Kirche oder für ein Wohnhaus oder für eine Scheune erkennen, uns klar ins Gesicht fällt. Also wird durch die Deutlichkeit jeder Gegenstand für das erkennt, was er ist oder sein soll und ist allezeit etwas relatives, weil man nicht eher von der Deutlichkeit eines Gegenstandes urteilen kann, bis man bestimmt weiß, was er da, wo man ihn sieht, vorstellen soll. Wenn man in einem Gemälde einen Gegenstand sähe, den man für ein Gebäude erkennte, ohne sagen zu können, was für eine besondere Gattung des Gebäudes es ist; so könnte dieser Gegenstand, so wie er ist, deutlich oder undeutlich sein, nachdem die Natur der Szene, zu der er gehört, erfordert, dass er entweder als ein Gebäude überhaupt oder als ein Gebäude einer gewissen Gattung erscheine.
Dieses leitet uns auf die Bemerkung, dass in den Werken der Kunst jeder Gegenstand den Grad der Deutlichkeit haben müsse, der ihm in der Verbindung, darin er ist, zukommt, damit er bestimmt für dasjenige erkennt werde, was er in dem Werke sein soll. Das Gemälde, es sei eine Historie oder eine Landschaft, gibt das beste Beispiel zur Erläuterung dieser Anmerkung. In einem historischen Gemälde sind die Hauptpersonen nicht deutlich genug vorgestellt, wenn man nicht gar alles an ihnen sieht, was dient, sie für die Personen, die sie vorstellen, zu erkennen und sie in der Lage und Gemütsbeschaffenheit, die aus der Handlung entsteht, zu sehen. Nebenpersonen können deutlich genug sein, wenn man gleich nicht so bestimmt wahrnehmen kann, wer sie sind und was sie fühlen: es kann so gar nach der Absicht des Malers schon genug sein, wenn Personen nur in dem Grad der Deutlichkeit bezeichnet werden, dass man sieht, ob sie ankommen oder weggehen, wenn man auch sonst gar nichts bestimmtes an ihren Personen oder Handlungen sah.
So muss in einem Werk der Kunst jeder einzelne Teil den Grad der Deutlichkeit haben, der hinlänglich ist, ihn so kennbar zu machen als er in der Verbindung mit dem Ganzen sein soll. Wenn Homer eine Schlacht beschreibt, so bringt er uns nur wenige Personen so nahe vors Gesicht, dass wir jede Stellung und Bewegung derselben bestimmt sehen; er tut dieses jedesmal nur in Ansehung der Hauptpersonen: andere lässt er uns in einer größeren Entfernung sehen und begnügt sich uns überhaupt merken zu lassen, dass sie tapfer mitstreiten; noch andere aber rückt er so weit aus dem Gesichte, dass wir bloß ihre Gegenwart im Streit erkennen, ohne zu bemerken, was sie dabei besonders tun. Also setzt er jeden in das Licht, darin er sein muss, um die ganze Szene, bestimmt in die Augen fallen zu lassen.
So macht es auch der Redner, der nur die Hauptvorstellungen deutlich entwickelt und bis auf einzelne Begriffe klar darstellt, jede andere Vorstellung aber nur in dem Maße ihrer Wichtigkeit in einem höheren oder geringern Grad der Deutlichkeit zeigt. Dieses ist auch das einzige Mittel, einem aus vielen Teilen bestehenden Werk im Ganzen die gehörige Deutlichkeit zu geben; so dass in der Tat die Undeutlichkeit einzelner Teile zur Deutlichkeit des Ganzen notwendig werden. Eine Landschaft würde keine wirkliche Gegend vorstellen, wenn nicht jeder Gegenstand nach dem Grad seiner Entfernung an Deutlichkeit abnähme; denn eben diese Abnahme an Deutlichkeit bewirkt das Gefühl der Entfernung. Und es würde ungereimt sein, an einem in großer Entfernung liegenden Gegenstand, dessen bestimmte Art man wegen des allzu großen Abstandes nicht mehr erkennen kann, den Mangel der Deutlichkeit zu tadeln, da dieser Gegenstand schon dadurch deutlich genug wird, dass er sichtbar ist.
Es ist also zu der Deutlichkeit des Ganzen notwendig, dass die Hauptsachen von den Nebensachen gehörig unterschieden und jeder Teil des Gegenstandes in das dem Grad seiner Wichtigkeit angemessene Licht gesetzt werde: weil dadurch allein das Ganze die gehörige Deutlichkeit erhält.
In den Werken der redenden Künste, die von einiger Weitläufigkeit sind; in Erzählungen, Beschreibungen und in dem lehrenden Vortrag, entsteht die Deutlichkeit überhaupt aus der genauen Abteilung der Gegenstände, aus der Ordnung, wie sie auf einander folgen und aus der Ausführlichkeit, womit die Hauptvorstellungen bezeichnet werden. Und denn noch insbesondere in einer geschickten Art, das Ende einer jeden Hauptvorstellung, den Anfang der folgenden und den Zusammenhang derselben, durch einen geschickten Ausdruck deutlicher zu machen. In diesem besonderen Punkt eines deutlichen Vortrages können die französischen Schriftsteller als Muster angepriesen werden. Wie aber überhaupt die Materie abzuteilen und die Teile anzuordnen seien, damit das Ganze deutlich werde, ist höchst schwer zu sagen. Die Lehrer der Redner geben hierüber kein Licht; ihre Anmerkungen erstrecken sich bloß auf die Deutlichkeit im Ausdruck einzelner Gedanken und hauptsächlich nur auf die, welche von der Wahl der Wörter herkommt, wobei wenig Schwierigkeit ist. Allgemeine Betrachtungen über die Einteilung oder Gruppierung der Vorstellung, über die Anordnung derselben, fehlen in der Theorie der redenden Künste ganz. Und doch sind diese beiden Punkte beinahe das wichtigste, was der Redner, der dramatische und der epische Dichter wissen müssen.
Die allgemeinste, aber auch wichtigste Lehre, die man Rednern und Dichtern hierüber geben kann, ist diese: dass sie die Anlage ihres Werks nicht eher machen, bis sie die Materie desselben völlig in ihrer Gewalt haben. Dieses geschieht, wenn sie dieselbe so lang und so oft überdacht haben, bis sie ihnen so geläufig worden ist, dass sie dieselbe mit einem Blick übersehen können. Wer einen Menschen so oft und in so vielerlei Umständen gesehen hat, dass er sich jedes Gesichtszuges, jeder Gebärde und Bewegung desselben mit Leichtigkeit erinnert, dem wird es unendlich leichter eine Beschreibung seiner Person zu machen als wenn er ihn nur einmal gesehen hätte. Und so verhält es sich mit jedem anderen Gegenstand unserer Vorstellungen. Wer eine Begebenheit, davon er ein Zeuge gewesen ist, oft überdacht und sich jedes Umstands dabei wieder erinnert hat, dass ihm jedes einzelne darin, so oft er will, wieder einfällt, der allein kann sie mit der Deutlichkeit wieder erzählen, die nötig ist, sie auch anderen deutlich vorzustellen. Die vollständige Sammlung aller zu einer Sache gehörigen Gedanken und die völlige Besitznehmung derselben ist nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste Verrichtung des Künstlers. Hat er dieses erhalten, so wird ihm nach Maßgebung seiner Beurteilungskraft auch die Einteilung und Anordnung der Sachen leicht werden. Hat er diese, so muss er sich eben so bemühen, die Hauptvorstellungen besonders, eine nach der anderen lang und vielfältig zu überdenken; denn dadurch erhält er den dritten zur Deutlichkeit nötigen Punkt, die Ausführlichkeit der Hauptvorstellungen.
Überhaupt aber müssen Redner und Dichter die Werke der besten Maler in ihrer Anordnung, in den Gruppierungen und in der ausführlichen Bearbeitung der Hauptgruppen fleißig studieren und sich zum Muster der allgemeinen Deutlichkeit vorstellen.