Denkspruch. (Redende Künste) Ein kurzer in der Rede beiläufig angebrachter Satz, der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthält. Diejenigen, denen lange Erfahrung und ein scharfes Nachdenken große Kenntnis der Welt und der Menschen gegeben hat, pflegen jede vorkommende Sache gegen die ihnen beiwohnenden allgemeinen Begriffe und Urteile als gegen einen Maßstab zu halten, um dadurch entweder ihre Begriffe zu berichtigen oder das besondere in einen allgemeinen Gesichtspunkt zu bringen: und daher entstehen in ihren Reden, diese allgemeine Anmerkungen, davon diejenigen, die wichtig genug sind, in beständigem Andenken behalten zu werden, Denksprüche genannt werden. Orestes findet bei seiner Rückkehr nach Mykene seine Schwester an einen armen Landmann verheiratet, der sich aber als ein großmütiger Mensch, gegen seine Gemahlin aufführt: Der Sohn des Agamemnons, von einem so edlen Verfahren gerührt, hält dieses besondere Beispiel, gegen ein allgemeines Vorurteil und bricht dabei in diese Worte aus. Wenn werden doch die Menschen klug genug werden, das Vorurteil abzulegen, den Adel der Seele aus dem äußerlichen zu beurteilen.1 Auf diese Art entstehen die Denksprüche, indem man das Besondere, das man gegenwärtig vor sich hat, gegen das Allgemeine hält, das in den Begriffen und Urteilen der Menschen liegt.
Man hat zu allen Zeiten die Denksprüche als einen wichtigen Teil der redenden Künste angesehen, ob sie gleich auch oft, wegen des übertriebenen Gebrauchs, in Misskredit gekommen sind. Suetonius lobt den Augustus, dass er den kindischen Gebrauch der Denksprüche in seiner Schreibart vermieden habe.2 Eine Gattung der asiatischen Schreibart, die bei den strengsten Kunstrichtern eben nicht im besten Ansehen steht, unterscheidet sich durch einen Überfluss solcher Denksprüche, die aber in dieser Art mehr witzig und zierlich als wichtig und groß waren.3 Dass die Sache könne übertrieben werden und dass gemeine, erzwungene, bloß witzige Denksprüche, Flecken der Rede und keine Schönheiten seien, lässt sich gar leicht begreifen. Allein dieses benimmt der Wichtigkeit der Sache nichts und kann uns nicht hindern, über den Nutzen und den Gebrauch derselben einige Anmerkungen zu machen. Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf Erweckung lebhafter Vorstellungen, die dauerhafte und zugleich nützliche Eindrücke auf die Gemüter der Menschen machen. Unter diesen Vorstellungen sind ohne Zweifel diejenigen Hauptwahrheiten, die uns auf der einen Seite die wahren moralischen Verhältnisse des Menschen richtig und deutlich abzeichnen, auf der anderen Seite die richtigsten Regeln für unser Thun und Lassen angeben, die nützlichsten und zugleich die wichtigsten. Eine bloß spekulative Kenntnis dieser Wahrheiten, ist von geringem Nutzen; sie müssen dergestalt mit dem sinnlichen Gefühl verbunden werden, dass wir die Widersprüche gegen dieselben, nicht als Fehler des Urteils ansehen, sondern als Zerrüttungen der Empfindungen fühlen. Nur die Wahrheiten, die man so empfindet, haben Einfluss auf unsere Handlungen.
Also muss die Wahrheit, die der Leitfaden unseres sittlichen Denkens und Handelns sein soll, sich in uns als eine Folge der Empfindungen äußern. Dieses aber geschieht nur alsdann, wenn wir lebhafte und richtige Gemälde, von den sittlichen Verhältnissen der Menschen und den mannigfaltigen Auftritten des Lebens vor Augen haben und die darin liegenden allgemeinen Wahrheiten als in Beispielen anschauend erkennen. Nun tun Geschichtsschreiber, Redner und Dichter, wenn sie nur, wie ihr Beruf es erfordert, wahre Weisen sind, nichts anders, als dass sie uns solche Gemälde vor Augen legen. Sollten sie aber dabei versäumen, uns auch, wenn wir stark genug davon gerührt sind, die Moral derselben oder die darin liegende allgemeine Wahrheit, in einem kurzen und lebhaften Denkspruch zugleich einzuprägen? Wie könnten sie besser als auf diese Weise, das, wofür sie von den ältesten Zeiten her gehalten worden, Lehrer der Menschen sein.
Es ist eine Erfahrung, die jeder Mensch von Nachdenken oft muss gemacht haben, dass manche Wahrheit uns lange bekannt gewesen ist, ohne merklichen Eindruck auf uns zu machen, bis wir in einem besonderen Fall dieselbe so fühlen, dass sie auf beständig als eine immer wirkende Kraft, in der Seele liegen bleibt. Dieses ist der Fall der wichtigen Denksprüche, wenn sie am rechten Ort angebracht werden und wenn das Gemälde, dem sie gleichsam zur Aufschrift dienen, vorher recht lebhaft gezeichnet worden.
Man würde sich fälschlich einbilden, dass es jedem Leser könnte überlassen werden, selbst die in den Gemälden liegenden Lehren heraus zu ziehen; denn, nicht zu gedenken, dass nicht jeder Leser dieses zu tun im Stand ist, so dient auch hier, wie in anderen Dingen, das Beispiel zu einer weit lebhaftern Vorstellung. Wir sind bei lächerlichen und traurigen Auftritten, durch das was wir sehen und hören, vollkommen zum Lachen oder Weinen vorbereitet und dennoch lachen oder weinen wir nicht eher, bis wir sehen, dass andere es tun und uns gleichsam den Ton dazu angeben; und gerade so geht es auch mit der lebhaften Empfindung der Wahrheit, die ebenfalls durch das Beispiel sehr verstärkt wird.
Man kann also die Denksprüche mit Grund als sehr wesentliche Vollkommenheiten der Werke redender Künste ansehen. Wenn in den ältesten Zeiten der Philosophie der den Namen eines Weisen verdiente, der einige von ihm gemachte Beobachtungen über das sittliche Leben der Menschen, in einem kurzen Denkspruch fasste, so wie die bekannten Sprüche der sogenannten sieben Weisen, wie viel mehr wird der Dichter oder Redner diesen Namen durch wichtige Denksprüche verdienen können, da er uns zugleich das Gemälde, an dem wir ihre Wahrheit auf das lebhafteste fühlen, mit lebendigen Farben vorzeichnet? Dadurch hat Euripides verdient unter den Philosophen, neben den göttlichen Sokrates gestellt zu werden.
Es sind zwar nicht alle Wahrheiten gleich wichtig, doch ist jede, wenn sie nur vollkommen richtig und bestimmt ist, schätzbar: man muss deswegen nicht verlangen, dass die Denksprüche lauter erhabene Wahrheiten enthalten sollen; denn auch die gemeinen, die in dem allgemeinen Gefühl aller Menschen mit mehr oder weniger Klarheit liegen, werden dadurch wichtig, dass sie in den Gemütern wirksam werden. Wie für einen Menschen, der Brod um den Hunger zu stillen kaufen muss, das kleinste Stück von gangbarem Gelde nützlicher ist als ein Stück von weit größerem Werte, das nicht gangbar wäre, so ist es auch mit den Wahrheiten, von denen die brauchbarsten, auch die besten sind. Man hat deswegen mehr auf die gute Art, die Denksprüche anzubringen als darauf zu sehen, dass sie etwas neues oder schwerer zu bemerkendes enthalten; denn man sagt immer etwas wichtiges, wenn man etwas wahres auf das kräftigste sagt. Eine einzige, sehr einfache Regel, ist beinahe hinlänglich den Redner und Dichter hierbei zu führen: wo er irgend an einer Stelle seines Werks eine Wahrheit höchst lebhaft fühlt, da sage er sie. Dieses zeigt ihm nicht nur die Stellen, wo die Denksprüche gut stehen, sondern auch der gute Ausdruck derselben wird ihm ohne Mühe beifallen, wenn er nur selbst lebhaft fühlt. Aber aus jeder Stelle mit Gewalt einen Denkspruch zu erzwingen, wie man mit dem Stahl Feuer aus einem Stein schlägt, ist der gerade Weg abgeschmackt zu werden. Die Anmerkung muss aus der Materie, wie eine Blume aus ihrer Knospe hervorbrechen und nicht, wie etwa in solchen Blumen, die man den Kindern zum Spielzeug gibt, willkürlich an solchen Stellen angehängt sein, wo die Natur sie niemals hervorbringt.
Die größte Behutsamkeit hierin hat der epische und noch mehr der dramatische Dichter nötig. Der erste kann noch hier und da, wiewohl auch überaus selten, in seiner eigenen Person sprechen und wo er selbst also eine Wahrheit stark fühlt, sie als einen Blitz, aus der Stelle, wo sie gezeugt wird, hervorbrechen lassen; aber der dramatische Dichter lässt nur andere reden. Da ist es nicht genug, dass er selbst die Wahrheit in der höchsten Kraft fühle, er muss, um sie anzubringen, versichert sein, dass die Person, die er einführt, sie so gefühlt und so gesagt haben würde. Nicht nur der von Sentenzen überfließende Seneca in seinen Trauerspielen, sondern der große Euripides selbst, hat dagegen oft gefehlt; Sophokles aber niemals. Man kann es sowohl bei den Griechen als bei den Römern sehen, wie bei dem Abnehmen des guten Geschmacks, die Lust an Sentenzen immer zunimmt. So bald man anfängt, den Zweck der Künste aus dem Gesichte zu verlieren und mit Gewalt nur gefallen will, so bildet man sich ein, jeder Vers oder jede Periode müsse sich durch eine besondere Schönheit für sich ausnehmen und verfällt dadurch in den kindischen Geschmack, die Denksprüche zum Auszieren zu brauchen und alles wird zu Sentenzen. Daher sagt Quintilianus, kommen denn die kleinen und abgeschmackten Sprüchelchen, die der Materie ganz fremd sind; denn wie sollte man so viel gute Denksprüche finden als Perioden sind?4 Einige übertreiben die Sache so sehr, dass ihre ganze Rede eine Zusammensetzung von Denksprüchen ist.
Nirgends wird eine größere Vollkommenheit des Ausdrucks erfordert als bei den Denksprüchen. Kraft und Kürze, Klarheit und Wohlklang müssen da auf das vollkommenste vereinigt sein, weil sie ohne diese Eigenschaften die schnelle und lebhafte Wirkung, die sie tun sollen, nicht haben können. Dazu hilft keine Regel: nur das wahre Genie, durch die Wärme der Empfindung lebhaft gereizt, findet, ohne zu suchen, die Mittel dazu.
Cicero hat die Gattungen der Denksprüche in wenig Worten sehr gut bezeichnet. Zum Unterricht müssen sie scharfsinnig, zum Vergnügen witzig, zu Erweckung der Empfindung ernsthaft sein5. Sie kommen aber nicht allemal in Form allgemeiner Sätze oder Lehren, sondern auch als Vermahnungen und Bestraffungen oder Warnungen vor, wie der bekannte Spruch des Virgils: discie justitiam moniti nec temnere divos. Es gibt sehr vielerlei Arten der Wendung sie anzubringen; aber es wäre unnötig sich dabei aufzuhalten.
Eine besondere Gattung machen die lustigen Denksprüche aus, die scherzhaften Werken eine große Annehmlichkeit geben können. Jedermann weiß, was für einen Reiz La Fontaine seinen scherzhaften Fabeln und Erzählungen dadurch gegeben hat und unser Gellert hat sich derselben auch oft sehr glücklich bedient. Sie sind zum Scherzhaften eben so wichtig als die anderen zu Werken von ernsthaftem Inhalt und können das Lächerliche, wie mit einem Brandmal unauslöschlich, zeichnen. Die possierliche Sentenz, die La Fontaine einem Dummkopf, der glaubt die Natur tadeln zu können, in den Mund legt:
On ne dort point quand on a tant d'esprit. kann uns nie beifallen, ohne dass wir zugleich über solche Narren lachen, dergleichen der dichter in dieser Fabel schildert. Aber wie in ernsthaften Denksprüchen nur Männer von einer gewissen Stärke der Vernunft und des Genies glücklich sein können, so gehört zu den scherzhaften eine original Laune, die vielleicht das Seltenste aller Talente ist.
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1 Eurip. Electra v. 383 f. f.
2 Genus eloquendi secutus est elegans, vitatis sententiarum ineptiis. Oct. Aug. c. 86.
3 Asiaticum (genus) adolescentiae magis quam senectuti concessum, Genera autem duo sunt: unum sententiosum & argutum, sententiis, non tam gravibus & severis, quam concinnis & venustis. Cicero de Clar. Orator. c. 9.
4 Inde minuti corruptique sensiculi et extra rem petiti: neque enim possunt tam multæ bonæ sententiæ esse, quam necesse est multæ sint clausulæ. Inst. L. VIII. 1-5. Nec multas plerique sententias dicunt, sed omnia tamquam sententias. Ib.
5 Sunt docendi acutæ: delectandi quasi argutæ: commovendi graves. De Opt. Gen. Orat. – Est vitiosum in sententia, si quid absurdum, aut alienum, aut non auc tum, aut subinsulsum est. Ib.