Umriss. (Zeichnende Künste) Die äußersten Linien, wodurch die Schranken, folglich die Form eines Körpers bestimmt wird. Vorzüglich versteht man dadurch die äußersten Linien bei Zeichnung der menschlichen Gestalt; die den wichtigsten Teil der Zeichnung ausmachen. Jede besondere Ansicht des Körpers, lässt einen besonderen Umriss sehen und in jeder möglichen Ansicht verändert er sich nach der Stellung oder Bewegung der Gliedmaßen. Also kann eine Figur nach unendlich viel verschiedenen Umrissen gezeichnet werden.
Bei jeder Zeichnung des Umrisses ist auf zwei wesentliche Punkte zu sehen, auf Richtigkeit und auf Schönheit. Die Richtigkeit des Umrisses entsteht aus Beobachtung der wahren Verhältnisse und der wahren Wendung einzelner Teile. Nämlich, der ganze Umriss besteht aus unzähligen krummen, aus- und eingebogenen, mehr oder weniger gekrümmeten und immer in einander fließenden Linien. Die Erhöhungen und Vertiefungen dieser Linien entstehen aus den unter der Haut liegenden Muskeln und Knochen. Jene sind nicht nur in jedem einzelnen Körper, sondern bei jeder Stellung und Bewegung, so wohl in Verhältnis als in Form anders. Es gibt aber auch allgemeine Verhältnisse und Formen, die ganzen Gattungen eigen sind. Menschen von gewisser Lebensart, zeigen Umrisse, die ihrer Gattung eigen sind. Ein Kämpfer, der sich täglich in gewaltsamen Bewegungen übet, bekommt an allen Teilen andere Umrisse als ein weichlicher und meist stillsitzender Mensch.
Dergleichen Veränderungen entstehen auch durch das Temperament und das Alter. Man staunet bei einigem Nachdenken über die Schwierigkeiten in jedem Falle die Richtigkeit der Umrisse zu treffen.
Ohne sehr gute Kenntnis der Anatomie, ohne ausgebreitete Beobachtung der Bewegungen an nakenden Körpern von allerlei Alter und Temperament, ist es unmöglich einige Fertigkeit in Zeichnung der Umrisse zu erhalten. Und doch wird die ausgebreiteste Kenntnis hierin für tausend Fälle noch nicht hinreichen, wenn man nicht die Natur selbst vor Augen hat. Es ist nötig die Schwierigkeit der Sache ins Licht zu setzen, damit besonders junge Künstler die dringende Notwendigkeit des Studiums und der Übung in ihrer Kraft empfinden. Einem guten Zeichner des Nakenden müssen die Muskeln des menschlichen Körpers so bekannt sein als die Buchstaben des Alphabets dem, der Wörter zu schreiben hat.
Das allgemeine Kleid oder die Haut, die den Körper bedeckt, gibt eigentlich der menschlichen Figur die Schönheit, insofern sie von der Richtigkeit der Verhältnisse unabhängend ist. Sie mildert alles Harte und Steiffe, bringt alle Linien des Umrisses zur Einheit der Form und gibt ihm die liebliche Harmonie und das sanfte Wesen, wodurch die menschliche Gestalt, auch bloß in Absicht auf den Umriss allein, die höchste Schönheit der Form erhält.
Die Einheit der Linie des ganzen Umrisses scheint die erste notwendige Eigenschaft der Schönheit des Umrisses zu sein. Eine einzige unabgebrochene Linie muss die ganze Figur umschließen. In dieser Linie muss nichts gerades sein; alles muss sich Wellenförmig bald mehr, bald weniger runden; aber mit so sanften Abwechslungen, dass man vom ausgebogenen auf das eingebogene, von dem mehrgekrümten, auf das gerade laufende, durch unmerkliche Stufen kommt, so dass das Auge um den ganzen Umriss sanft fortglitschen könne.
Einer der wichtigsten Punkte der Schönheit liegt in der abwechselnden Stärke und Schwäche, in der Kühnheit, womit einige und der bescheidenen Vorsichtigkeit, womit andere Teile gleichsam ausgesprochen werden. Im Umriss kann nicht einerlei Ton herrschen, wenn es ihm nicht ganz an Kraft fehlen soll. Wer den vortreflichsten Umriss, wie ihn Raphael gemacht hätte, mit einer dünnen, überall gleichen Linie, nachzeichnen würde, benähme ihm dadurch fast alle Kraft; er würde nur den Schatten eines schönen Umrisses, wiewohl in der größten Richtigkeit der Verhältnisse darstellen. So wie die Wörter der Rede, die Redesätze und ganze Perioden ihre verschiedenen Akzente, Hebung und Abfall der Stimme haben müssen, um wohlklingend zu sein, so muss auch der Umriss, Ton und Stimm abändern. Einiges muss sich durch Kühnheit, anders durch das Sanfte auszeichnen.
Aber es wäre Tollheit, eine Sache, die man bloß zu fühlen, nie aber zu erkennen, im Stand ist und wozu die Sprache keine Worte hat, ausführlich beschreiben wollen. Der Künstler übe sein Auge an der Natur, an den besten Antiken, an den Werken des Raphaels, M. Angelo und anderer großer Männer und lerne zuerst fühlen, denn suche er das, was er fühlt, auszudrücken.
Neue Schwierigkeiten zeigen sich in Absicht auf den Umriss, wenn der Zeichner statt der Reißfeder den Pinsel führt. Da muss er einigermaßen zaubern können, um uns Sachen sehen zu lassen, die nicht da sind. Denn wir sehen Begränzung, ohne die Grenzen zu sehen. Aber ich enthalte mich von einer. Sache zu sprechen, die für die Meister der Kunst selbst, zum Teil noch ein Geheimnis ist. Einige Lehren hierüber gibt Leonh. da Vinci in dem 337 und 338 Kapitel seiner Beobachtungen und Anmerkungen. Plinius merkt an, dass auch von den alten Malern wenige in diesem Stücke der Kunst glücklich gewesen. Extrema corporum facere et desinentis picturæ modum includere, rarum in successu artis invenitur. Ambire non debet se extremitas ipsa et sic desinere, ut promittat alia post se, ostendatque etiam quæ occultat. Hanc Parrhasio gloriam concessere Antigonus et Xenocrates, qui de pictura scripserunt.1
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1 Plin. L. XXXV. c. 10.