Übungen. (Schöne Künste) Sind Arbeiten des Künstlers, die keinen anderen Zweck haben als die Erlangung der zur Kunst nötigen Fertigkeiten. Man weiß aus gar viel Beispielen, dass Übungen zu bewunderungswürdigen Fertigkeiten führen. Die Kunststücke der Gaukler, der Seiltänzer und Taschenspieler sind bekannte Beweise davon. Daher sagt ein schon altes Sprüchwort, dass Übung den Meister mache. Fleißige und tägliche Übungen sind demnach mit dem Studium der Kunst notwendig zu verbinden, wenn man ein Künstler werden will. Wie aber zu den Künsten innere und äußere Fertigkeiten erfordert worden, so gibt es auch zweierlei Übungen. Durch die innern erwirbt man sich die Fertigkeiten des Geistes und des Herzens, z.B. die Fertigkeit schnell zu fassen, richtig zu beurteilen, viel auf einmal zu übersehen, richtig und fein zu empfinden. Durch äußere Übungen der Sinne und anderer Gliedmaßen des Körpers erlangt man die Fertigkeiten genau zu sehen, das Augenmaß, ein feines und viel umfassendes Gehör, eine leichte und zu jeder Bewegung geschickte Hand u.s.w. Es wäre sehr überflüssig hier jeder zu den verschiedenen Künsten nötigen Fertigkeiten besonders Erwähnung zu tun; die Sachen sind bekannt. Aber wichtig ist es jungen Künstlern zu sagen, dass das größte Genie zur Kunst die Übung nicht entbehrlich mache; dass Apelles selbst es sich zur Regel gemacht, keinen Tag ohne einige Pinselstriche zu tun, vorbei gehen zu lassen und dass durchgehends die größten Künstler in jeder Art dieselbe Regel beobachten und ihre Größe zum Teil dadurch erlangt haben.
Ist aber die Übung selbst für Meister so notwendig, so mag der Schüler und der noch junge Künstler die Notwendigkeit fleißiger Übungen daraus abnehmen. Die Bildung des künftigen Künstlers muss in der frühesten Jugend, ich möchte bald sagen, in der Kindheit mit äußern Übungen anfangen. Zu den zeichnenden Künsten muss die Hand und das Aug, zur Musik die Finger oder nach Beschaffenheit der künftigen Ausübung der Mund oder die Kehle und zugleich das Ohr, zu den Künsten der Rede die Werkzeuge der Sprach und auch das Gehör, zuerst geübet werden. Späther wird man zu vielen Übungen zu verdrossen, weil das Gemüt schon zu sehr mit anderen Gegenständen beschäftigt ist, sie werden schon schwerer, weil die Gliedmaßen schon anfangen etwas von ihrer Geschmeidigkeit zu verlieren und vielleicht auch deswegen, weil der Eindruck den jede einzelne Übung macht, und davon etwas fortdauernd sein muss, schon etwas von ihrer Lebhaftigkeit zu verlieren, anfängt.
Wichtig ist es dabei, dass man allmählich vom Leichtern auf das Schweerere steige. Es wäre zu wünschen, dass man für jede Kunst so vollständige und so wohl überlegte Anweisung für die ersten Übungen der Kunst hätte als die sind, die Quintilian für den künftigen Redner gegeben hat.
Bei den inneren Übungen muss man bei den so genannten untern Seelenkräften, dem Gedächtnis, der Einbildungskraft und der Kraft zu fassen und zu empfinden anfangen und danach die höheren Kräfte zu beobachten, zu vergleichen, zu entwickeln, zu beurteilen u.s.w. durch Übung anstrengen.
Zu wünschen wäre es, dass einer unserer besten Psychologen, sich die Mühe gäbe, eine allgemeine Asketik oder Wissenschaft der Übungen zur möglichst vollkommenen Entwicklung der Fähigkeiten der Seele zu verfertigen. Denn könnte man daraus auch die besonderen Anweisungen zu den inneren Übungen der Künstler herleiten.
Durch eine gewöhnliche Metonymie werden auch solche Werke, die Künstler zur Übung verfertigt haben, Übungen genannt. Man gibt ihnen auch den Namen der Studien, weil sie im französischen é tudes genannt werden. Dergleichen Übungen großer Meister werden von Kennern sehr gesucht. Allgemein übertreffen sie in besonderen Teilen der Kunst die wirklich nach allen Teilen ausgearbeiteten Werke. Denn bei den Übungen sieht der Künstler allgemein nur auf das Eine, darin er sich übet, verfährt deswegen freier und wird durch andere zu einem völlig ausgearbeiteten Werk der Kunst gehörige Teile in dem Feuer der Arbeit nicht gehemmt. Wer sich bloß in der Zeichnung des Einzelnen übet, wird weder durch das Kolorit, noch durch die Anordnung, die der äußersten Vollkommenheit der Zeichnung bisweilen hinderlich sind, in Verlegenheit gesetzt. So wird der Tonsetzer, der sich in Harmonien übet, durch die Schwierigkeit der Melodie, des Takts und des Rhythmus nicht gehemmt und kann deswegen auf Erfindungen kommen, die er nicht würde gemacht haben, wenn er bei der Arbeit auf alles zugleich hätte sehen müssen.