II. Anwendungen
1. Sittenlehre (im engeren Sinne). »Wir haben nur die Bedingungen der Ichheit vollständig aufzuzeigen und dieselbe auf den Trieb nach Selbständigkeit zu beziehen..., so haben wir den Inhalt des Sittengesetzes erschöpft.« Dies im einzelnen auszuführen, fehlt hier der Platz. Wir können nur einige charakteristische Gedanken herausgreifen. Mein Endzweck ist: Ich soll selbständig sein; oder, verallgemeinert: die Realisierung der Vernunft in einer Gemeinschaft freier Wesen, der wahren »Gemeinde der Heiligen« Die Pflichten werden eingeteilt - immer unter »Ableitung« aus der »Ichheit« - in solche in Ansehung des Leibes und der Intelligenz, bedingte und unbedingte, allgemeine Menschen- und besondere Berufspflichten, z.B. der Ehegatten, Kinder, Eltern, des Gelehrten, Predigers oder moralischen Volkslehrers, Künstlers, der Regierenden, der niederen Volksklassen usw. Mit Kant nimmt Fichte ein radikales Böse in der menschlichen Natur an. Jeder Mensch hat seinen Schlendrian; daraus entspringen die drei Grundlaster der Trägheit, Feigheit und Falschheit, aus allen dreien zusammen die Lüge. Womöglich noch rigoroser als Kant verwirft Fichte die Notlüge. Der Eigentumslose hat ein Recht auf Eigentum, der Arme auf staatliche Unterstützung; es soll weder Bettler noch Almosen geben. Alle sollen frei sein; nicht das Volkswohl, sondern die Gerechtigkeit ist das höchste Gesetz! Der Beruf des Gelehrten - mit Vorliebe von ihm behandelt (in seinen Vorlesungen zu Jena 1794, Erlangen 1805, Berlin 1811, vgl. die Sonderschrift von 1805) - ist es, Lehrer der Menschheit, Priester der Wahrheit zu sein.
Der Paragraph »über die Pflichten des ästhetischen Künstlers« ist deshalb interessant, weil Fichte sich sonst selten über Ästhetisches ausgesprochen hat.*)
Die schöne Kunst bildet nicht den Verstand oder das Herz allein, sondern den ganzen Menschen. Sie macht »den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen«, d.h. sie erschafft die Welt neu aus dem Innern des Menschen heraus. Und sie führt anderseits den Menschen in sich selbst hinein, um ihn dort heimisch zu machen. Keiner werde Künstler ohne Genie, jeder Künstler begeistere sich nur für das Ideal!
Getrennt von der Sittenlehre steht die besonders im System des Naturrechts dargestellte
2. Rechtslehre, welche es im Unterschiede von jener mit den äußeren oder Rechtsverhältnissen der Menschen zu tun hat. Auch sie wird aus dem Selbstbewußtsein deduziert. Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuzuschreiben und deshalb andere Vernunftwesen der gleichen Art anzunehmen. Die wechselseitige Anerkennung führt zur Rechtsgemeinschaft, welche gebietet: Beschränke deine Freiheit so, dass die anderen neben dir auch frei sein können. Die Urrechte des einzelnen, die ihm seine Freiheit oder (sittliche) Persönlichkeit garantieren und nur in den Urrechten der anderen ihre Schranken finden, sind: 1. das Recht der freien Selbstbestimmung über meinen Leib, als Werkzeug meines Willens, 2. das Recht auf Eigentum, d.h. ausschließliche Unterordnung bestimmter Objekte unter meine Zwecke, 3. das Recht auf Selbsterhaltung. Sobald der andere diese meine Urrechte nicht achtet, tritt das Zwangsrecht der Staatsgesetze ein. Das Strafrecht sichert deren Durchführung durch Abbüßung oder relative bezw. absolute Ausschließung; die öffentliche Sicherheit und Ordnung wird durch das Polizeigesetz gesichert. - In einem Anhang zum Naturrecht wird auch das Ehe- und Familienrecht abgehandelt. Die Ehe wird von Fichte außerordentlich hochgestellt, ja mit fast übertriebenen Worten gefordert, das Leben des Weibes solle ohne Rest in dem des Mannes aufgehen, dieser aber durch Großmut sich dieser Liebe würdig zeigen. Den unverheirateten Frauen will Fichte alle Berufe, ausgenommen verantwortliche Staatsämter, öffnen; doch hält er z.B. weibliche Schriftstellerei für eins »der unglücklichsten Geschäfte«. Von der
3. Staatslehre haben wir einige Züge schon in der »Sittenlehre« kennen gelernt. Im Naturrecht fordert Fichte, den Tendenzen der Zeit entsprechend (auch die »Urrechte« erinnern an die »Menschenrechte« der Französischen Revolution), die Verwirklichung des Rechtsstaats, der das »realisierte Naturrecht« darstellen soll. Der Staatsbürgervertrag stellt den gemeinsamen Willen im Gesetze fest, das durch die regierende, richtende und strafende Staatsgewalt ausgeführt wird. Wie Rousseau und Kant, verlangt Fichte Volkssouveränität und Volksvertretung, darüber hinaus noch Verantwortlichkeit der Staatslenker vor den »Ephoren«.
Im Geschlossenen Handelsstadt (1800) geht er jedoch über den Standpunkt des bloßen Rechtsstaats hinaus und fordert den Vernunftstaat und in dessen Namen staatliche Organisation der Arbeit, damit ein jeder von seiner Arbeit leben könne. Denn jedermann hat ein unveräußerliches Recht auf Arbeit (zweckvolle Betätigung) und auf menschenwürdige Existenz. »Der Mensch soll arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier... er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben.« Zu diesem Zwecke muß der Staat alle Einfuhr und Ausfuhr in die eigene Hand nehmen, also einen »geschlossenen« Handelsstaat herstellen, er hat die Güterproduktion und Güterverteilung zu regulieren, desgleichen die Preise, er führt ein besonderes, unnachahmbares Landesgeld ein usw.; persönliches Eigentum soll jedoch nicht ausgeschlossen bleiben. Die liberalen Berufe und die drei »geschlossenen« Stände der Produzenten, Fabrikanten und Kaufleute sind ebenso streng voneinander gesondert, wie die einzelnen Staaten voneinander überhaupt; die internationalen Beziehungen zu pflegen, ist allein der Wissenschaft vorbehalten. So stellt die dem preußischen Finanzminister Struensee gewidmete und von diesem wohlwollend aufgenommene Schrift zwar ein sozialistisches Staatsideal auf, aber ein durchaus reaktionäres, vielfach dem Friderizianischen Staate verwandtes; sie hat denn auch auf die Entwicklung der sozialistischen Theorie und Praxis nicht den geringsten Einfluß geübt. Vgl. Marianne Weber, Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin, Tübingen 1900, über seine Sittenlehre auch Maria Raich, Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problem des Individualismus, ebd. 1905.
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*) Vgl. außerdem noch den Aufsatz Geist und Buchstab in der Philosophie (1794).