1. Ästhetik


»Das Objekt der Kunst oder die platonische Idee«, d.h. »die Vorstellung, unabhängig vom Satz des Grundes«: das ist das Thema des nach Form und Inhalt besonders anziehenden dritten Buches der Welt als Wille und Vorstellung.

Schon in Schopenhauers Naturphilosophie hatten wir die platonischen Ideen in den ursprünglichen und unwandelbaren Naturkräften kennen gelernt, die durch das principium individuationis in die Vielheit der Erscheinungen eingehen. Die Ideen bleiben, während die Erscheinungen nie sind, sondern immer nur werden. Während die Erkenntnis, dem Willen entsprossen, »in der Regel« dessen Dienste unterworfen bleibt, reißt sich das Subjekt in der Erkenntnis der Idee von diesem Dienste los, wird es »willenlos« Das anschauende Individuum fragt nicht mehr nach dem Wo? Wann? Warum? Wozu? der Dinge, sondern »verliert sich« nur in die Betrachtung ihres »Was«? Es hat seine eigene individuelle Existenz vergessen, ist »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses« Subjekt der Erkenntnis geworden und betrachtet die Dinge nicht in ihren vergänglichen Gestalten, sondern in ihrem wahren, keinem Wechsel unterworfenen Sein, mit anderen Worten: als Ideen; diese erzeugen erst, wie schon bei Plato, das »eigentliche« Sein (ontôs on). Jetzt erst »tritt die Welt als Vorstellung gänzlich und rein hervor«, denn die Idee allein ist die adäquate »Objektivität« des Willens. Indem ich rein erkennendes Subjekt bin, habe ich die gesamte Natur in mich hineingezogen, fühle ich mich als Bedingung und Träger alles objektiven Daseins.

Dieses Anschauen der Dinge in ihrer wahren, ewigen Gestalt (sub specie aeternitatis) und die Mitteilung desselben ist aber nicht Sache der Wissenschaft,*) die das einzelne nur in seinen Beziehungen zueinander, abhängig vom Satze des Grundes, erkennt, sondern Werk des Genies, d.h. der Kunst. »Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntnis der Ideen, ihr einziges Ziel Mitteilung dieser Erkenntnis.« Sie hält das Rad der Zeit an, die Relationen der Wissenschaft und der Erfahrung verschwinden ihr, das einzelne wird ihr zum Repräsentanten des Ganzen. Genialität heißt Vergessen der eigenen Person (des Willens), durch die Phantasie erweiterte Fähigkeit, sich in die reine Anschauung zu verlieren, vollkommenste, uninteressierteste Objektivität, deren der gewöhnliche Mensch, »diese Fabrikware der Natur«, nicht fähig ist. Im genialen Menschen hat, wie schon in seinem Äußeren, insbesondere dem lebhaft-festen Blicke sichtbar wird, das Erkennen ein entschiedenes Übergewicht über das Wollen. Aber er besitzt eine Abneigung gegen das rein Abstrakte, z.B. die Mathematik. Leonardos Geistesart scheint Schopenhauer nicht zu kennen, dagegen tritt er für Goethes Farbenlehre gegen die »Neutonischen Flausen«, die »ungestört im, Besitz der Lehrstühle in Deutschland bleiben«, ein. Eher zeigt er eine Verwandtschaft mit dem »holden Wahnsinn« Der Wille (bei Schopenhauer, wie wir wissen = Trieb) entspringt aus dem Bedürfnis, dem Mangel, dem Leiden und kommt daher nimmer zur Ruhe. Das Ästhetische entreißt die Erkenntnis dem Sklavendienste dieses Willens, das Rad des Ixion steht still; der reinen Kontemplation ist es einerlei, ob sie aus dem Kerker oder dem Palast den Sonnenuntergang erblickt. Sie versenkt sich ganz in die Seligkeit des willenlosen Anschauens, sei es des reinen Schönen oder in die erst nach einem Kampfe mit dem »Willen« gewonnene des Erhabenen.

Die nunmehr (a. a. O. § 39) beginnende und bis zum Schlüsse (§ 52) fortgesetzte, über zwei Drittel des Ganzen einnehmende angewandte Ästhetik Schopenhauers ist ausgezeichnet durch ihren Reichtum an geistvollen Bemerkungen wie durch die ausgebreiteten Kenntnisse und das feine Kunstgefühl ihres Verfassers, und bietet auch für den, der den leitenden Gedanken des Philosophen nicht zuzustimmen vermag, eine außerordentlich reizvolle Lektüre.

Im folgenden heben wir nur einzelnes für Schopenhauer besonders Charakteristische hervor. In der Architektur offenbaren sich vorzugsweise die miteinander ringenden Kräfte der anorganischen Natur, des Steins (Starrheit, Schwere und Licht). In den bildenden Künsten die der allmählich aufsteigenden organischen Kräfte in der Landschafts- und Pflanzen- (Stilleben-), Tier-, Porträt- und Historienmalerei. Menschliche Schönheit bezeichnet »die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit«, drückt also die Idee des Menschen aus; ihr Anblick versetzt uns am schnellsten und leichtesten in jene Seligkeit des willenlosen Schauens, die uns über uns selbst und alles, was uns quält, hinaushebt. Die Poesie übertrifft die bildenden Künste insofern, als sie den Menschen »in der zusammenhängenden Reihe seiner Bestrebungen und Handlungen« darstellt, [Tut das die Skulptur oder Malerei nicht gerade so gut, wie etwa die Lyrik ?] Als ihre höchste Gattung sieht Schopenhauer die Tragödie an, die uns den »Widerstreit des Willens« mit sich selbst, somit vor allem die »schreckliche Seite des Lebens«, den »namenlosen Schmerz, den Jammer der Menschheit, den Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und den rettungslosen Fall der Gerechten und Unschuldigen« vorführt. Seine Ethik des Pessimismus (s. u.) tritt hier bereits hervor. Die wunderbarste, mächtigste und umfassendste aller Künste aber ist ihm die Musik.**) Sie ist nicht, wie die anderen, ein Abbild der Ideen, sondern unmittelbar des Willens, also des »Wesens« der Welt. Sie drückt nicht eine bestimmte einzelne Freude, Betrübnis usw., sondern die Freude, die Betrübnis, den Jubel, die Gemütsruhe selbst aus, besonders durch die Melodie, die sich in ihrer höchsten Gestalt der Worte gänzlich entledigt. Das unaussprechlich Innige der Musik beruht darauf, dass sie alle Regungen unseres Innersten Wesens wiedergibt, aber fern von der Wirklichkeit und ihrer Qual.

So zeigt sich die Kunst als des Menschen Erlöserin von der Unruhe und Qual des Lebens. Aber immer nur vorübergehend, auf kurze Augenblicke. Die volle Erlösung, den endgültigen Trost bringt erst die Ethik des Pessimismus.

 

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*) Obwohl die Beispiele in dem einleitenden § 35 gerade ihr entnommen werden. Während z.B. die Eisblumen an den Fenstern »unwesentlich und nur für uns da« sind, offenbaren die Gesetze der Kristallisation deren Wesen, stellen »die Idee« dar.

**) Daher ist es nicht zu verwundern, dass Schopenhauer auf 80 musikalische Menschen wie Richard Wagner (S. 362) und Nietzsche (§ 75) besonders stark gewirkt hat.


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