II. Der objektive Geist


Der objektive Geist manifestiert sich 1. im Recht, 2. in der Moralität, 3. in der »Sittlichkeit«.

1. In der von Hegel auch besonders (s. S. 307) bearbeiteten Rechtsphilosophie ist a) die niederste Stufe das »abstrakte« oder »formale« Recht, welches wieder in Eigentums-, Vertrags- und Strafrecht zerfällt. Der Gegenstand nämlich des rechtes, die zu schützende Person, gibt sich die äußere Sphäre ihrer Freiheit im Eigentum, das daher ein jeder besitzen soll (vgl. Fichte, § 49), tritt in Verhältnis zu den anderen Personen im Vertrag, als dem Zusammenfluß zweier Willen, und setzt sich endlich als besonderen gegen den allgemeinen Willen in Unrecht, gesteigert in Verbrechen um, dessen Negation - also die »Negation der Negation des Rechtes« - die Strafe ist. Die dem Wiedervergeltungsrecht entspringende Strafe ist das Recht nicht bloß gegen den Verbrecher, sondern auch des Verbrechers als vernünftigen Wesens. Der besondere Wille dagegen, der das Allgemeine als solches will, ist die

2. »Moralität«, die zum abstrakten Recht etwa dieselbe Stellung, wie bei Kant zur »Legalität«, einnimmt und ungefähr dem entspringt, was wir heute Individual-Ethik nennen. Es werden Vorsatz und Schuld, Absicht und Wohl des Handelnden, das Gute und das Gewissen behandelt. Aber aus diesen Gegensätzen vermag sich nach Hegel die subjektive Selbstbestimmung nicht herauszufinden. Eine Ethik im Kantischen Sinne als Wissenschaft des Sollens, welche sittliche Gebote, gipfelnd in einem obersten Sittengesetze, aufstellte, erkennt Hegel nicht an, sondern nur eine solche des Seins. Die »subjektive« Moralität gilt ihm nicht als etwas Selbständiges - sie wird vielmehr in ihrer Isolierung willkürlich und böse -, sondern nur als Durchgangspunkt zu der Synthese von Legalität und Moralität, der »objektiven«

3. »Sittlichkeit « in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat.

a) Aus dem sittlichen Charakter des Familienlebens werden die Grundsätze für die Ehe, das Erbrecht und die Kindererziehung deduziert.

b) In der bürgerlichen Gesellschaft - ein aus Hegels Philosophie später in den Marxismus (§ 74) übergegangener und dort viel angewandter Begriff - ist letzter Zweck das Interesse des Einzelnen, das den Staat nur für den Schutz und die Sicherheit des Eigentums und der persönlichen Freiheit in Anspruch nimmt. Die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft behandelt daher die »Staatsökonomie« nur als das System der Interessen und Bedürfnisse, ferner die Rechtspflege (Öffentlichkeit und Schwurgerichte werden gefordert) und die sozialen Funktionen der »Polizei« (heute: inneren Staatsverwaltung, Regierung) einer-, der Korporationen (einer Art freier Zünfte) anderseits. Die Vollendung der objektiven Sittlichkeit stellt sich erst

c) im Staate dar, der dem vom Geiste der Antike erfüllten Philosophen geradezu als die Verwirklichung der sittlichen Idee oder der Freiheit, als das »an und für sich Vernünftige«, als der absolute Selbstzweck, ja in seinem früheren System der Sittlichkeit sogar als die absolut höchste Erscheinungsform des Geistes überhaupt gilt. Das Leben im Staate ist die absolute Sittlichkeit und zugleich absolute Wahrheit, Bildung, Uneigennützigkeit, höchste Schönheit und Freiheit, ja »das Göttliche, absolut, reell, existierend, seiend« »Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit« hat er »allein durch den Staat«, den er daher »wie ein Irdisch-Göttliches« (!) verehren soll, während jenem das Schicksal des Individuums völlig gleichgültig ist. Der Staat beansprucht unbedingte Autorität und ist auf seinem Gebiete durchaus selbständig, auch der Kirche gegenüber, die er allerdings in seinem eigenen Interesse schützen und fördern wird. Zwar soll der Staat die Organisation der »Freiheit« sein, doch merkt man davon in der konstitutionellen Erbmonarchie, die Hegel für die beste Verfassung hält, nicht viel. Das Volk erhält nur eine sehr bescheidene Teilnahme am Staatsleben in den »Ständen« zugewiesen; dagegen wird großer Wert auf das Institut des erblichen Monarchen gelegt, der die lebendig gewordene Gattungsvernunft in seiner geheiligten Person repräsentiert; man muß jemand haben, »der den Punkt auf das i setzt« Dieser ganze Staatsorganismus ist nun aber keineswegs ein sittliches Ideal, etwa im Sinne Kants. Es wird zwar auch hier wieder genug aus Begriffen a priori abgeleitet, aber doch unter deutlichem Hinblick auf den bestehenden preußischen Staat des Jahres 1821. Das Ergründen des Vernünftigen besteht in der Erfassung des Gegenwärtigen. »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«: diesen berüchtigten Satz ließ Hegel in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie mit gesperrten Lettern drucken. Freilich läßt sich damit nicht viel weniger als alles beweisen, wenn man die Vernunft im Hegelschen Sinne als die Notwendigkeit des geschichtlichen Entwicklungsprozesses faßt, und seine Schüler gingen denn auch, wie wir noch sehen werden, nach den verschiedensten Richtungen auseinander. Für Hegel selbst aber waren die »Besten« des platonischen Idealstaates zur preußischen Bureaukratie geworden; »die Regierung liegt«, nächst dem Monarchen, »in der Beamtenwelt« Dem »inneren« Staatsrecht wird das »äußere«, als die Lehre von dem Verhältnis des Staates zu anderen Staaten, gegenübergestellt, denn die volle Verwirklichung des »objektiven« Geistes zeigt sich nur in der Weltgeschichte. Damit geht die Rechtsphilosophie in

4. die Philosophie der Geschichte über, die zu den glänzendsten Partien des Hegelschen Systems gehört. Die Vernunft beherrscht die Welt, so auch die Weltgeschichte, in der es also »vernünftig« zugeht. Sie ist nicht so ohnmächtig, es nur bis zum Sollen, zum bloßen Ideal eines Kant oder Schiller zu bringen, sondern sie ist, ist die Wirklichkeit selbst. Die »Idee« ist das Wahre, Ewige, schlechthin Mächtige, das sich in der Welt offenbart. Der allgemeine oder Weltgeist bringt in den Schicksalen und Taten der besonderen Völker oder Staaten - denn unser Philosoph faßt die Geschichte wesentlich als politische auf - sukzessiv »sich selbst hervor« und übt sein Recht (und sein Recht ist das allerhöchste) »an ihnen in der Weltgeschichte als dem Weltgerichte, aus« Die einzelnen »Volksgeister« und hervorragenden Persönlichkeiten sind nur Werkzeuge in der Hand des Weltgeistes, »um dessen Thron sie als die Vollbringer seiner Verwirklichung und als Zeugen seiner Herrlichkeit stehen«, in der Regel, ohne, dass sie selbst es wissen; denn »das ist die List der Vernunft zu nennen, dass sie die Leidenschaften der Menschen für sich wirken läßt« Hegel ist trotz seiner Konstruktionssucht keineswegs blind gegen die »partikularen Interessen« und »selbstischen Absichten« der Einzelnen. Die Geschichte erklären heißt ihm »die Leidenschaften der Menschen, ihr Genie, ihre wirkenden Kräfte enthüllen«, deren sich die göttliche Vorsehung bedient, um ihren Plan, d.h. den absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt zu verwirklichen. »Nichts Großes in der Welt ist ohne Leidenschaft vollbracht worden.« Die Idee ist der Zettel, die Leidenschaften sind der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte. Die konkrete Mitte und Vereinigung beider ist die sittliche Freiheit im Staate. In jedem Zeitalter übernimmt ein Volk die geistige Führung und bringt damit zugleich die betreffende Stufe des Weltgeistes zum Ausdruck, bis es seine Mission erfüllt hat und ein neues an seine Stelle tritt. So gibt es vier große Perioden der Geschichte, die wieder in ihre Unterabschnitte zerfallen: die orientalische, griechische, römische und germanische Welt. Sie entsprechen dem Knaben-, Jünglings-, Mannes- und - Greisenalter der Menschheit, denn »das Greisenalter des Geistes ist vollkommene Reife, in der er nach Vollendung seines Lebenslaufs in sich selbst zurückgeht.*) Der Orient kennt nur einen Freien, die Antike einige, die »germanische Welt« alle als Freie; denn die Weltgeschichte ist für Hegel, trotz seiner konservativen Staatsgesinnung, »nichts als die Entwicklung des Begriffs der Freiheit«.

Für uns Jetztlebende ist diese ganze konstruktive, fälschlich als allein »philosophisch« bezeichnete Art der Geschichtsschreibung (in der es z.B. vom Schießpulver heißt: »Die Menschheit bedurfte seiner, und alsobald war es da!«) kaum erträglich. Aber für die damalige Zeit war Hegels geistreiche, den tieferen Zusammenhang der Ereignisse zu begreifen suchende, den historischen Entwicklungsprozeß betonende und das Gerippe der spekulativen Formeln immerhin doch mit dem Fleisch und Blut des Tatsächlichen umkleidende Geschichtsbetrachtung ein Fortschritt gegenüber der kleinlichen Auffassung der sogenannten »pragmatischen« Geschichtsschreibung und dem unhistorischen Rationalismus der Aufklärungszeit.

 

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*) Einen verwandten Gedanken enthält die bekannte Äußerung über die Aufgabe der Philosophie am Schlüsse der Vorrede zur Rechtsphilosophie: »Wenn die Philosophie ihr Grau in. Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst in der eintretenden Dämmerung ihren Flug« (a. a. O. S. 20 f.).


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