4. Praktische Philosophie
a) Ethik = Ästhetik. Wie Kant, so will auch Herbart die praktische Philosophie streng von der theoretischen scheiden: die letztere handle von der Realität der Dinge, die erstere von ihrer Wertschätzung. Wie Kant, kommt es auch ihm zunächst auf die Form, nicht auf den Inhalt des Willens an. Und wie Kant bekämpft er den Eudämonismus. Weiter geht die Übereinstimmung nicht. Denn Herbarts Ethik oder, wie er statt dessen lieber sagt, »praktische Philosophie« ist ihm ein Teil der - Ästhetik. Sie will nicht Güternoch Pflichten- noch Tugendlehre sein, sondern, seiner psychologischen Grundrichtung entsprechend, Lehre vom sittlichen Geschmack, der sich in der Beurteilung der menschlichen Handlungen äußert. Jenen drei ersten Auffassungen der Ethik haftet nach Herbart der gemeinsame Fehler an, dass sie den Willen zu seinem eigenen Regulativ machen; dabei komme aber immer nur ein Wollen, keine Würde desselben heraus. Es komme vielmehr auf das Urteilen über die Beschaffenheit des Willens an. Menschliches Wollen und Handeln errege fortgesetzt und unwillkürlich menschlichen Beifall oder Tadel. Aufgabe der Ethik als der wahren Geschmackslehre oder Ästhetik sei daher: »die Aufstellung dessen, was gefällt oder mißfällt, in den einfachsten Ausdrücken«. Wie wird aber nun das Gleichgültige zum Gefallenden oder Mißfallenden? Zu dem Ende braucht die praktische Philosophie »nichts anderes als gewisse Zeichnungen eines solchen und solchen Wollens zu liefern, damit bei den Zuschauern über einiges Wollen ein unwillkürlicher Beifall, über anderes ein unwillkürliches Mißfallen rege werde« Es gibt ein reines, d.h. willenloses, klares und bestimmtes Geschmacksurteil. Nach dessen Möglichkeit hat die Philosophie nicht weiter zu fragen, sondern nur nach seinen Voraussetzungen. Die Grundvoraussetzung aber ist die, dass das beurteilte Wollen niemals vereinzelt, sondern immer Glied eines Verhältnisses ist. Die Ästhetik soll nichts weiter tun als »uns in die Auffassung der gesamten einfachen Verhältnisse versetzen«, die bei »vollendetem« Vorstellen Beifall oder Mißfallen erzeugen. Das sittliche Urteil steht in dieser Beziehung auf derselben Stufe mit dem Urteile über Ton- und Farbenverhältnisse - der Generalbaß wird daher als »das einzige richtige Vorbild für eine echte Ästhetik« bezeichnet -, nur dass eben hier Willensverhältnisse den Stoff zum Urteil bieten. Zwar will auch Herbart den gebietenden Willen »als unstreitiges Faktum zugrunde legen«, aber dessen Autorität, wenn man von einer solchen sprechen wolle, beruhe doch nur auf den »willenlosen, ursprünglichen Wertbestimmungen«, einem »willenlosen Vorziehen oder Verwerfen«
b) Die ursprünglichen und die abgeleiteten Ideen. Solcher einfachen Willensverhältnisse oder »praktischer Ideen« gibt es nun fünf. Die erste und allgemeinste, 1. die der inneren Freiheit, drückt das Verhältnis zwischen dem vorbildenden Geschmack und dem nachbildenden Willen, also die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen dem Willen und sittlichen Urteil (Gewissen) des Handelnden aus. Sie ist daher Grundlage und Voraussetzung für die vier folgenden. 2. Die Idee der Vollkommenheit entsteht, wenn verschiedene Strebungen desselben Subjekts sich ihrer Größe nach miteinander messen; das Stärkere gefällt neben dem Schwächeren, das Gesammelte neben dem Zerstreuten usw. Auch sie ist sonach rein formal und empfängt ihren Inhalt erst von den drei übrigen. 3. Die Idee des Wohlwollens oder der Güte macht die Befriedigung fremden Wollens zum Gegenstand des eigenen Willens. Sie zeigt sich am liebsten in weiblicher Gestalt, »vielleicht, weil zum männlichen Handeln doch noch etwas mehr gehört als sie« »Der Natur mag Vollkommenheit, der Weltseele innere Freiheit zugeschrieben werden, Gott allein ist gut.« 4. Die Idee des Rechts entsteht durch das absichtslose, aber naturgemäße Zusammentreffen mehrerer wirklicher Willen in Beziehung auf einen äußeren Gegenstand. Da nun der Streit mißfällt, so sollen sich, um ihn zu verhüten, die verschiedenen Willen der allgemeinen Rechtsregel unterwerfen. Endlich 5. die Idee der Billigkeit oder Vergeltung vergleicht die Lage vor der (absichtlichen) Tat mit dem durch sie gestörten Gleichgewicht und fordert die gebührende Vergeltung für diese Störung.
Aus diesen fünf ursprünglichen folgen die fünf abgeleiteten Ideen, welche die individuelle Ethik zur sozialen erweitern. 1. Zuerst entwickelt sich nach Herbart unter einer Menge wollender Wesen die Idee einer Rechtsgesellschaft (vgl. oben 4). 2. Mit dem Prinzip der Vergeltung (5) tritt die des Lohnsystems hinzu. 3. Aus dem Grundsatz des Wohlwollens (3) wird die Idee des Verwaltungssystems abgeleitet, das die »größte mögliche Summe des Wohlseins« zu schaffen bezweckt. 4. Die Sorge, der Idee der Vollkommenheit (2) zu entsprechen, wird zu einem Kultursystem führen, und endlich 5. die »gemeinschaftliche Folgsamkeit gegen gemeinschaftliche Einsicht« zu der »inneren Freiheit (1) mehrerer, die nur ein einziges Gemüt zu haben scheinen«, d.h. der beseelten Gesellschaft. Eine solche sollte vielleicht jeder Staat werden, - aber »das kümmert uns hier nicht; den Staat charakterisiert seine zwingende Macht, die Ideen sind ohne Macht«! übrigens sollen diese »gesellschaftlichen« Ideen auch für jede kleinere und kleinste Verbindung bis zur häuslichen herab Geltung besitzen.
c) Anwendungen. Es würde zu weit führen, die Anwendungen, die Herbart von diesen seinen ethisch-ästhetischen Ideen macht, näher zu verfolgen. Der Wert seiner Ethik besteht, wie der Leser an Vorstehendem gemerkt haben wird, mehr in psychologischer Zergliederung und anregenden Einzelgedanken als in prinzipieller Grundlegung. Etwas besonders Fruchtbares bieten daher weder seine Gedanken vom Staate noch seine ziemlich farblose Religionsphilosophie. Das Wesen des ersteren erblickt unser stets psychologisch gerichteter Philosoph in dem Gleichgewicht der sozialen Kräfte. Der »Statik und Mechanik« des Geistes entspricht auch eine solche des Staates. Er soll weniger rechtliche Anforderungen erfüllen, als psychologische Notwendigkeiten berechnen, und sich hüten »zu künsteln« Gute Sitten und eine gute Regierung, der man sein Vertrauen schenken und dabei »dankbar zum Himmel blicken soll«, dünken diesem konservativen Denker weit wertvoller als »abstrakte Rechtsformen« und verfassungsmäßige Garantien. Der religiöse Glaube gründet sich zunächst auf die teleologische Betrachtung der Natur, die freilich keinen wissenschaftlich zwingenden Beweis für das Dasein eines allmächtigen und allweisen Wesens liefern kann. Dafür tritt ein unverlierbares praktisches Bedürfnis ein, das uns zu der Annahme eines »vortrefflichsten« Wesens, d.h. eines vollkommenen, gerechten und gütigen Gottes treibt. Im ganzen hat Herbart die Probleme der von ihm nirgends im Zusammenhang behandelten Religionsphilosophie offen gelassen, sodass sich auf dem Boden seiner Lehre sowohl entschiedene Rationalisten wie Positiv- Kirchliche zusammenfanden. Er selbst hielt am kirchlichen Bekenntnis fest, hielt sich jedoch von den religiösen Kämpfen der Zeit in seiner vorsichtig zurückhaltenden Weise durchaus fern. Noch weniger hat er das Feld der Ästhetik im engeren Sinne (Lehre vom Schönen) angebaut; die Musiktheorie schwebt ihm hier als Ideal einer Kunstlehre überhaupt vor. Diese Lücke haben auch von seinen Schülern nur einzelne, wie Zimmermann in Wien, auszufüllen versucht.
Um so erfolgreicher war er auf dem eigentlich von ihm zuerst in ein System gebrachten Gebiete der Pädagogik.