3. Ethik
Alles sittliche Handeln und Wollen ist auf die Natur gerichtet, erstrebt Einheit von Vernunft und Natur, wenn auch so, dass die Vernunft überwiegt. Zu der Ethik, als dem niemals vollendeten Naturwerden der Vernunft, gehört daher auch die Geschichte, vom Beginne menschlichen Wirkens an. Sitten- und Naturgesetz sind keine Gegensätze, denn das Sittengesetz ist das natürliche Lebensgesetz der Vernunft oder das Gesetz der vernünftigen Natur. Dem Unnormalen in der Natur entspricht auf dem Gebiete des Vernünftigen die Unsittlichkeit.
Schleiermachers Ethik tritt daher in einen ziemlich schärfen Gegensatz zu der Kantischen, in deren kategorischem Imperativ er einen rein juridischen Begriff erblickt; seine Vorbilder sind Plato, Spinoza und, ihm selbst unbewußt, auch Leibniz. Gegenüber dem Dualismus von Sollen und Sein will er deren Einheit, gegenüber dem »beschränkenden« das »frei bildende« Prinzip, gegenüber dem Allgemeinen das Individuelle verteidigen. Jeder soll auf seine eigene Art die Menschheit darstellen, sich zur Lebensaufgabe machen, »immer mehr zu werden, was er ist«, wenn er auch nie damit fertig wird. Das sittliche Leben besteht weiter in der Wechselwirkung von »symbolisierendem« (begreifendem) Erkennen und »organisierendem« (bildendem) Darstellen. Durch letzteres gestaltet die Vernunft die Natur nach ihrem Sinn, in ersterem bezeichnet sie das von ihr durchdrungene Naturgebilde als ihr zugehörig. Mit dieser Zweiteilung kreuzt sich die weitere in das Identische (Allgemeine) und Differenzierte (Individuelle). So ergeben sich vier Gebiete des sittlichen Lebens: Verkehr, Eigentum, Wissen (Denken) und Gefühl.
Damit treten wir in die eigentliche Sittenlehre ein, die Schleiermacher von dreifachem Gesichtspunkt aus als: a) Pflichten-, b) Tugend- und c) Güterlehre auffaßt. Die kunstvolle Gliederung der einzelnen Teile können wir nicht wiedergeben (vgl. darüber Franz Vorländer a. a. O. S. 161 - 329), sondern nur das allgemeine Schema. Die Pflichten zerfallen, nach dem Einteilungsgrund des Universellen und Individuellen einer-, der Gemeinschaftsbildung und Aneignung anderseits, in: Rechts-, Berufs-, Liebes- und Gewissenspflichten. Die Tugend oder die Ineinsbildung von Vernunft und Sinnlichkeit ist entweder Gesinnung oder Fertigkeit, und zwar wiederum erkennend oder darstellend. Daraus entspringt die platonische Vierzahl der Kardinaltugenden; nur dass an die Stelle der Gerechtigkeit bezeichnenderweise die christliche Tugend der Liebe tritt. Am eingehendsten und liebevollsten hat Schleiermacher, entsprechend seiner harmonisierenden Natur, die Güterlehre ausgebildet. Jenen vier Gebieten des sittlichen Lebens entsprechen die vier sittlichen Verhältnisse: Recht, Geselligkeit, Glaube (= Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit), Offenbarung. Auf diesen bauen sich, auf der Grundlage der Familie ruhend, vier Organismen oder Güter: Staat, gesellige Gemeinschaft, Schule (im weitesten Sinne) und Kirche auf. Ein Gut heißt jede Einheit von Vernunft und Natur; das höchste Gut ist die Gesamtheit aller dieser Einheiten.
Ohne Frage hat Schleiermachers Sittenlehre manche wertvolle Gesichtspunkte, wie die des Individuellen, der natürlichen Sittlichkeit, des Gutes, stärker hervorgekehrt, und seine Forderung der Ausbildung des Individuellen, das doch wieder in untrennbarem Zusammenhang mit den verschiedenen Formen der Gemeinschaft steht, hat er mit warmem Verständnis namentlich auf das Gebiet der Erziehung angewandt, die nach ihm, unabhängig von Staat und Kirche, völlig frei rein auf die Grundlage der Wissenschaft zu stellen ist. Aber methodisch gelangt seine Ethik doch über ein Beschreiben der sittlichen Verhältnisse nicht hinaus und dringt nicht zu ihrer Begründung vor. Von dauernderem Werte ist seine Religionsphilosophie.