6. Die Herbartsche Schule


Herbarts Lehre blieb anfangs neben der in ihrem höchsten Flor stehenden Hegelschen fast unbeachtet, bis sie durch Drobisch in Leipzig (s. u.) um 1830 zuerst in weitere Kreise getragen wurde und, nach Hegels Tode und dem Zerfall seiner Schule, eine immer zahlreichere Anhängerschaft, namentlich an der Universität Leipzig und in Österreich, gewann, die sich bald zur förmlichen Schule ausbildete. Die metaphysisch- mathematische Begründung freilich ist von den meisten seiner Anhänger jetzt fallen gelassen; dafür erfreuen sich seine Psychologie und noch mehr ihre pädagogische Anwendung mit gewissen, verhältnismäßig geringen Umbildungen noch heute, namentlich auf den Seminaren für Volksschullehrer, starken Ansehens.

Zu den ältesten Herbartianern gehören die bereits genannten Leipziger Professoren Drobisch (1802 - 1896, von 1826 - 1896, also 70 Jahre Professor in Leipzig), Verfasser verbreiteter Lehrbücher über formale Logik, empirische Psychologie und Religionsphilosophie, und G. Hartenstein (1808 - 1890, von 1839 - 1859 gleichfalls in Leipzig), der Herausgeber von Kant und Herbart, sowie der österreichische Philosoph und Unterrichtsminister F. Exner (1802 - 1853). Um den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie erwarben sich diese Männer ein Verdienst durch ihren nachdrücklichen Hinweis auf die Erfahrungswissenschaften gegenüber der spekulativen Verstiegenheit der meisten Hegelianer. Von späteren Herbartianern nennen wir die Psychologen Volkmann (1822 - 1877, Lehrbuch der Psychologie 1856, 4. Aufl. 1894 f.), Nahlowsky (1812 - 1885, Das Gefühlsleben 1862, 3. Aufl. 1907, Allgemeine Ethik 1870, 3. Aufl. 1903), den besonders hervorragenden, früh verstorbenen Theodor Waitz (1821 - 1864, Anthropologie der Naturvölker 1859 ff.), der sich in seinem Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft (1849) freilich schon stark von den Herbartschen Grundlagen entfernte und auf eine physiologische Grundlage seiner psychologischen Grundwissenschaft hinsteuerte; ferner den ebenfalls (von Dorpat) nach Leipzig gezogenen L. Strümpell (1812 - 1899); die Theologen Thilo (1813 - 1894), Allihn (1812 - 1885) und Flügel (1842 - 1914); den als Plato- und Aristoteleskenner verdienten Philologen H. Bonitz (1815 - 1888), den Ästhetiker R. Zimmermann in Wien (1824 - 1898), den später in das Lager der Neuscholastik übergegangenen Prager O. Willmann (geb. 1839); die Schulmänner Dörpfeld, Kern, Stoy und Ziller, von denen ersterer, obwohl selbst konfessionell, die »freie Schulgemeinde auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate« (1863) auf Grund des Familienprinzips und des Prinzips der Gewissensfreiheit forderte, während die beiden letzteren, die Orthodoxesten der Herbartschen Schule, die Lehre des Meisters am systematischsten, aber auch dogmatischsten ausgebaut haben (Kulturstufen, Konzentrations-, Gesinnungsunterricht).

Ein eigenes Organ gründete sich die Schule 1860 in der von Allihn und Ziller redigierten Zeitschrift für exakte Philosophie im Sinne des neueren (sc. Herbartschen) philosophischen Realismus, die nach 15 jährigem Bestehen einging, aber 1883 zu neuem Leben erwachte (bis 1896, von Flügel geleitet). Seit 1894 wird der pädagogische Herbartianismus durch die unter der Redaktion von W. Rein (geb. 1847) stehende Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik vertreten. Rein, Professor der Pädagogik in Jena, gibt auch das Enzyklopädische Handbuch für Pädagogik heraus.

Eine Abzweigung der Herbartschen Schule bildete die von M. Lazarus (1824 - 1903) und H. Steinthal (1823 bis 1899) von 1860 - 1890 geleitete Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, welche sich um die Erforschung der Elemente und Gesetze der Sprache und des Völkerlebens auf psychologischer Grundlage verdient gemacht hat. Über Lazarus, der mit Herbart die Psychologie als die philosophische Grundwissenschaft betrachtet, dann aber eigene Wege eingeschlagen hat, vgl. A. Leicht, Lazarus der Begründer der Völkerpsychologie, Leipzig 1904. Steinthai hat außer seinen sprachwissenschaftlichen Werken (vgl. § 78, 8) auch eine Allgemeine Ethik (1885) geschrieben. Von dieser Richtung ging auch Steinthals Schüler G. Glogau in Kiel (1844 - 1895) aus, der später eine eigene, von christlichen und platonischen Elementen durchtränkte Metaphysik entwickelte (Abriß der philosophischen Grundwissenschaften, 2 Bände, 1880 - 1888) und noch heute einen Kreis von vorzugsweise theologischen Anhängern zählt.

Als verwandt mit Herbart kann auch die eigenartige Lehre des deutschschreibenden Russen und idealistischen Denkers A. Spir (1837 - 90, Denken und Wirklichkeit 1873, Gesammelte Werke, Leipzig 1908) betrachtet werden.


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