Erkenntnistheoretischer Nominalismus
Der scholastische Nominalismus stellte sich dem scholastischen Wortrealismus tapfer gegenüber, aber er konnte das letzte Wort nicht finden, weil er an die Realität der Individuen glaubte und die Zufälligkeit der Sinne nicht ahnte. Was ich lehre, das ist bereits ein Nominalismus redivivus genannt worden. Doch er hat nach seiner Wiedererweckung die Schule von Locke und Hume und Kant nicht vergessen und ist, befreit von irdischen kirchlichen Sorgen, ein reiner, erkenntnistheoretischer Nominalismus.
Hätte dieser Nominalismus schon gesiegt, so wäre es nicht mehr möglich, dass kluge Menschen heute noch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Leben unterschieden. Das mag eine lustige Theorie sein, die jemals der Praxis widerspricht. Es ist als wollte man Gesetze aufstellen, die eingestandenermaßen der Erfahrung widersprächen. Und doch waren und sind die größten Männer der größten Praxis dem Wortaberglauben unterworfen. Ich denke dabei an die Staatsmänner, deren Stärke doch naturgemäß darin liegen muß, dass sie die Wirklichkeit erkennen, dass sie nicht Ideologen oder Wortrealisten sind. Man denke aber einmal an die beiden Riesen unter den handelnden Personen des 19. Jahrhunderts, an Napoleon und Bismarck, die beide mit Recht als Besieger der Ideologie gelten. Das allmählich wachsende Lebensziel beider Männer könnte man dahin zusammenfassen, dass sie beide den Namen Cäsar oder Kaiser wieder zu einer Macht machen wollten, Napoleon mehr für sich selbst, Bismarck mehr für seinen König und sein Land. Sehen wir dabei ab von all dem Unheil, welches der Wortaberglaube an die Staatsformen für Julius Cäsar selbst, der Wortaberglaube an den Titel Cäsar für die Kaiser des deutschen Mittelalters zur Folge hatte. Napoleon machte dieses Wort mit unerhörter Kraft zu einer Realität, ging aber am Ende daran zugrunde, dass er wortabergläubisch an einem anderen Begriffe hing, an dem geographischen Begriff "Europa", dass er sich nicht Cäsar fühlte, solange jemand in "Europa" ihm nicht gehorchte. Man kann in Napoleons Briefen Belege dafür finden, wie der Zufallsbegriff "Europa" seine Entschlüsse lenkte, ihn in den Feldzug gegen Rußland trieb. Selbstverständlich war Europa daneben auch eine Realität durch die höfischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Rußland und den Westmächten; aber darüber hinaus wurde Napoleon durch den Begriff beeinflußt. Und Napoleon hatte doch so wenig vom Namensaberglauben der Religion, dass er sich's zwar lachend gefallen ließ, als der Papst den heiligen Napoleon ihm zu Ehren wieder in den Kalender setzte; dass er aber nichts dafür übrig hatte, seinen Vorfahr Bonaventura Buonaparte heilig gesprochen zu sehen. Und der noch größere Nominalist Bismarck, der fünfzig Jahre nach Napoleons Katastrophe an den englischen Gesandten die Frage stellte, sprachkritisch: "Wer ist Europa?", Bismarck, der seine Erfolge sein ganzes Leben lang dem Wirklichkeitssinne verdankte, mit welchem er die wirklichen Knochen der deutschen Soldaten, den wirklichen Charakter seines Königs, die wirkliche Handlungsweise seiner inneren und äußeren Gegner in Rechnung zog, erfuhr seinen einzigen Mißerfolg dadurch und fiel vielleicht indirekt darüber, dass er einen einzigen seiner Gegner, den oder die Lenker der römischen Kirche, nicht als Menschen von Fleisch und Blut, sondern als einen Begriff bekämpft hatte.
Wäre einmal der erkenntnistheoretische Nominalismus und mit ihm die Sprachkritik in die geistige Gewohnheit des Volkes oder wenigstens der führenden Männer übergegangen, dann würden die letzten Reste von Ideologie aus dem Kalkül der Staatsmänner verschwinden, dann würde ein Genie wie Bismarck nicht mehr dem Irrtum verfallen können, er handelte, wenn er mit Kanonen gegen den Namen Rom oder gegen das Abstraktum Papsttum schießt. Solange die Sprachkritik nicht das Denken geklärt hat, wird man immer wieder einmal glauben, es sei etwas, wenn man einen Gegner in effigie aufhängt, anstatt ihn körperlich beim Kragen zu kriegen. Man weiß es heute noch nicht, dass solche wortrealistische Überbleibsel in den Köpfen der gewaltigsten Männer an den Bildzauber der Araber erinnern, die ein Opfer tödlich zu verwunden versprechen oder glauben, wenn sie auf seinem Bilde das Herz mit einer Nadel durchstochen haben. Soviel über den praktischen Nutzen des erkenntnistheoretischen Nominalismus oder einer Kritik der Sprache.
Wie gefährlich der Streit um Worte für die Praxis des Lebens sei, das haben immer am besten die Engländer eingesehen, deren freiere Philosophen, welche niemals Professoren, oft Staatsmänner waren, das Beste zur Bekämpfung des Wortrealismus beigetragen haben. Schon Johannes von Salisbury (im 12. Jahrhundert), ein Schüler Abailards, spottet der dialektischen Spitzfindigkeiten. Man führt ihn gewöhnlich als einen Gegner der Nominalisten auf. Er machte sich aber eigentlich über beide Parteien lustig. Als er nach einem tätigen Leben nach Frankreich zurückkam und dort die alten Kommilitonen immer noch auf demselben Flecke fand, schrieb er: "Die Welt ist gealtert in der Bearbeitung der Frage nach den Gattungs- und Artbegriffen; an diese Frage ist mehr Zeit verwandt worden, als das Haus Cäsar an den Gewinn der Weltherrschaft setzte, mehr Geld verschwendet, als Krösus besaß; sie fesselte viele Leute so ausschließlich ihr ganzes Leben lang, dass sie weder das eine noch das andere fanden."
Es ist ein hübscher Zufall der Sprache, dass zur Zeit der Renaissance die Wortrealisten die Antiken, die Nominalisten die "Modernen" hießen. ("Modemi" stammt gewiß von "modo", spätlateinisch soviel wie "jetzt, heute", und heißt also wahrhaftig "die Heutigen".) In veränderter Wortbedeutung sind heute alle modernen Menschen Nominalisten, ohne es zu ahnen. Wieder wie zu den Zeiten Occams oder noch genauer wie zu den Zeiten Abailards sucht sich die denkende Menschheit von dem Ballast der Abstraktionen zu befreien; insbesondere die abstrakten Begriffe aus der Ästhetik und der Ethik, also alle bisher geglaubten Gesetze der Kunst und des Staatslebens, werden kritisierend zersetzt, und die Umwertung aller Werte ist durch Nietzsche ein beliebtes Schlagwort geworden. An der Bezeichnung "Wert" erkennt man, dass der Ansturm in erster Linie der Gruppe von Vorstellungen gilt, die man zuletzt unter dem Namen der praktischen Philosophie zusammengefaßt hat. Unter dem Jammergeschrei der Kirche und der alten Staatstheoretiker hat die nominalistische Auflösung all dieser Abstraktionen und der in ihnen versteckten Werturteile begonnen. Aber immer wieder scheute man zurück vor der viel wichtigeren Auflösung der theoretischen Begriffe, vor einer radikalen Kritik der menschlichen Erkenntnis und Erkenntnismöglichkeit. Ja, die offizielle Wissenschaft protzt hochmütiger als je auf den Wert derjenigen Universalien oder Allgemeinbegriffe, die in unserem Zeitalter den Namen der Naturgesetze angenommen haben. Wie der alte Konzeptualismus die psychologische Entstehung der Begriffe in der Menschenseele zugab, aber in den Dingen selbst dennoch etwas Reales suchte, das genau den Begriffen entsprechen sollte, so sind heute unsere besten Forscher — bewußt oder unbewußt — einig über die rein subjektive Entstehung und Bedeutung der Menschensprache, aber die Gesetze, welche sie in dieser Menschensprache geformt haben, halten sie trotz alledem für etwas in der Wirklichkeit Vorhandenes, sie halten die Naturgesetze für Befehle, welche die Natur sich selber gibt, wenn schon kein Gott sie gegeben hat. Und unendlich schwer ist es, die Anschauung festzuhalten oder gar mitzuteilen, dass diese Naturgesetze ebenfalls nur Abstraktionen des Menschengehirns sind und das, wovon diese Gesetze vielleicht ein Spiegelbild, vielleicht verworrene Erinnerungen, vielleicht Karikaturen sind, auf keinen Fall etwas Wirkliches, sondern nur Beziehungen sind, für welche die Menschensprache Worte nicht besitzt. Wir haben ein zusammenfassendes Wort für eine Gruppe von Erscheinungen, welche wir auf den Magnetismus zurückführen. Wir können uns der Vorstellung nicht verschließen, gewiß nicht, dass die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen diesen Erscheinungen auf irgend etwas in der Natur zurückgehe; aber es ist menschlicher Hochmut zu glauben, dass es in der Natur etwas geben müsse, was insbesondere unserem Begriff Magnetismus entspreche. Es ist einer der vielen Hominismen, die wir nicht los werden können. So hatte man bis vor hundert Jahren in der Chemie der Verbrennung den Begriff Phlogiston und glaubte so lange, dass diesem Begriff etwas entspreche. Nicht viel anders steht es um den Hauptbegriff des mittelalterlichen Streites, um den Artbegriff. Durch Jahrtausende mußte man hinter ihm etwas Wirkliches sehen, und es war nur ein Gradunterschied, ob die krassen Wortrealisten von Platon bis auf Schopenhauer in den Arten etwas Wirkliches sahen oder ihre Gegner sich mit Worten abmühten, es irgendwo in die Individuen zu verstecken. Als Darwin uns lehrte, dass Arten entstehen können, da mußte der starre Artbegriff vergehen. Aber nur scheinbar wurde der Standpunkt des Mittelalters dadurch überwunden; unsere Darwinisten werden sich schwerlich darüber belehren lassen, dass ihre Gesetze der Vererbung und Anpassung wieder nur Worte sind, hinter denen wir Zeitgenossen nur so lange etwas Wirkliches suchen können, als wir vorübergehend unter dem Banne dieser Worte stehen.
Der reine und konsequente Nominalismus, der niemals von Nominalisten ausgesprochen wurde, der ihnen wahrscheinlich nur von boshaften Gegnern in den Mund gelegt worden ist, die Lehre, dass sämtliche Begriffe oder Worte des menschlichen Denkens nur Luftausstoßungen der Menschenstimme seien, der konsequente Nominalismus, nach welchem die Erkenntnis der Wirklichkeit dem Menschengehirn ebenso versagt ist wie dem Chemismus einer Steinoberfläche, dieser reine Nominalismus, der trotz aller Naturwissenschaften an der Erkenntnis des Falls oder der Farbe oder der Elektrizität ebenso ruhig verzweifelt wie an der Erkenntnis des Bewußtseins, dieser erkenntnistheoretische Nominalismus ist keine beweisbare Weltanschauung. Er wäre kein Nominalismus, wenn er sich selbst für mehr ausgeben wollte als für ein Gefühl, für die Stimmung des menschlichen Individuums gegenüber der Welt. Und sogar ist uns ein Zuendedenken dieser Lehre, ja nur ein zufriedenstellendes Sichversenken in diese Stimmung versagt, weil alles Denken in den Worten der Sprache stattfindet und das Denken sich selbst auflöst, wenn uns die Nebelhaftigkeit der Worte klar geworden ist. Ein Sichversenken in die bloße Stimmung ist wohl eine Weile möglich; dann aber sucht der Grübler immer wieder wie ein Lyriker doch die Stimmung in einem armen Worte festzuhalten und muß ins Leere greifen, wenn er nicht mehr an das Wort glaubt. Der reine Nominalismus macht ein Ende mit dem Denken und fühlt darüber hinaus, mit einem neuen Schauder der Menschheit, dass Farbe oder Ton, die Überbleibsel seiner Weltbetrachtung, ein Spielzeug für Kinder sind, das die Zufallssinne dem Menschen in die Wiege gelegt haben. Mit Worten läßt sich wirklich nur streiten, nicht schaffen; nur alter Glaube bekämpfen, nicht neuer Glaube beweisen. "Meinungen allgemeingültig zu widerlegen ist möglich; Meinungen allgemeingültig zu begründen ist unmöglich" (S. Philipp, Vier skeptische Thesen).
* * *