Gesetze in den Worten enthalten
Ich habe vorhin nebeneinander von Regelmäßigkeiten der Gesetze Natur und von Ähnlichkeiten unserer Sinneseindrücke gesprochen. Ich wollte damit andeuten, dass die neuere Weltanschauung, wie sie seit Locke und Kant auf die Erkenntnis der Wirklichkeit verzichtet und sich auf Kenntnis unserer subjektiven Sinneseindrücke zurückzieht, an dem Begriff der Naturgesetze nichts geändert hat. Haben wir eben ganz begriffen, dass unsere imponierenden Gesetze nichts weiter sind als ein anderer Ausdruck für unsere induktiv entstandenen Begriffe oder Worte, so ist es doch ganz gleichgültig, ob wir uns dieser Entstehung aus Sinneseindrücken bewußt sind oder ob wir an ein direktes Wahrnehmen der Dinge glauben. Regelmäßig war der Lauf der Sonne auch damals, als wir von der Scheinbarkeit der Bewegung noch nichts wußten. Die sogenannten Naturgesetze bezeichnen ebenso keine andere Regelmäßigkeit, seitdem wir wissen, dass nur ein Widerschein der Wirklichkeitswelt in unserem Denken ist.
Der Fortschritt gegen früher, der uns auf die Naturwissenschaften unserer Tage so famulusmäßig stolz sein läßt, besteht einzig und allein in der größeren Genauigkeit der Beobachtungen. Die Präzisionsmechanik bildet den Hauptunterschied zwischen der Mechanik der Alten und unserer Mechanik. Wenn einige Wissenschaften ganz neu aufgetreten sind, wie z. B. die Chemie mit ihren mathematischen Gesetzen, so ist auch das nur der Ausdruck für die Regelmäßigkeit feinerer und schärferer Beobachtungen. Ohne Zweifel hat die Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaften ihre sogenannten Gesetze weit hübscher und brauchbarer zugleich gemacht; das menschliche Interesse wie die interesselose Freude werden mehr befriedigt als früher; aber darum hört das Naturgesetz nicht auf, ein überflüssiges Wort zu sein. Es schadet nicht viel, wenn die Gelehrten und die Abfasser von Schulbüchern von Zeit zu Zeit unbewußt in die alte anthropomor-phische Vorstellungswelt zurückverfallen und. unklar von den Gesetzen so reden, als wären sie Untergottheiten zwischen der Allmutter Natur und ihren einzelnen Erscheinungen. Wie gesagt, so poetische Bilder schaffen nicht mehr großen Schaden. Die Leser ahnen ja doch, wir aber wissen es: dass die Einzelerscheinungen sich zu ihren sogenannten Gesetzen ebenso verhalten wie unsere Einzelwahrnehmungen zu unseren Begriffen. Sowenig unsere Einzelwahrnehmungen die Wirkungen oder die Folgen von ihrem Begriffe sind, sowenig gehen die Erscheinungen aus den Gesetzen hervor. Nicht die Gesetze gehen voraus, sondern die Tatsachen. Nicht die Tatsachen gründen sich auf Gesetze, sondern die Bequemlichkeit unseres Denkens gründet Gesetze auf Tatsachen, wie sie Begriffe auf Wahrnehmungen gründet. Die Gesetze sind nicht das Vorausgehende, sondern das Nachkommende. Und das einzig und allein in unserem Gehirn. Und ich stehe nicht an, den Begriff Gesetz damit aus der Eeihe unserer leibhaftigen Worte auszustreichen, wenn ich sage: so wie Platon und mit ihm die sogenannten Realisten des Mittelalters zu den wahrgenommenen Einzeldingen sich die allgemeinen Begriffe konstruierten und sie als etwas Reales, als Erzeuger der Einzeldinge auffaßten, sie gewissermaßen als zeugende Gottheiten der Dinge in die Ewigkeit hinausprojizierten, genau ebenso konstruieren sich unsere Naturforscher — bewußt oder unbewußt — zu den wahrgenommenen regelmäßigen Naturveränderungen Begriffe dieser Veränderungen, nennen diese Begriffe Gesetze und sind geneigt, sie zeitlich als Regierer vor die Änderungen zu setzen, wenn sie sie auch nicht geradezu mythologisch in den Raum hinausprojizieren.
Sind wir so erst ganz einig darüber, dass unser ganzes menschliches Wissen in unseren Wahrnehmungen besteht, unser Denken oder Sprechen einzig und allein in der bequemen Ordnung dieser Wahrnehmungen (durch Begriffe oder Worte, welche ähnliche Wahrnehmungen zusammenfassen), so werden wir bescheiden weiter sagen, dass wir Gesetze diejenigen Begriffe zu nennen pflegen, die besonders regelmäßige Naturbewegungen oder Änderungen zusammenfassen. Gespenster, die pünktlich zur gleichen Stunde erscheinen. Wir nennen die Regelmäßigkeiten in der Mechanik, die wir bis auf die kleinsten Bruchteile beobachten gelernt haben, Gesetze, wie wir die Regelmäßigkeiten in der Biologie, die noch sehr schlecht beobachtet sind, ebenfalls Gesetze nennen. So haben, wir doch auch in bezug auf die Dinge selbst festere Begriffe wie Eisen usw., wir haben daneben fließendere Begriffe wie Tier. Darum scheint mir der Streit darüber, auf welche Veränderungen der Begriff Gesetz anzuwenden sei und auf welche nicht (Sprachgesetze z. B.), um der Relativität des Gesetzbegriffs willen ein reiner Wortstreit zu sein. Was man jetzt Soziologie nennt, weist ganz gewiß Ähnlichkeiten oder Regelmäßigkeiten auf; ob man diese Erscheinung nun statistische Gesetze oder bescheidener Tendenzen nennt, das macht die Beobachtungen selbst weder besser noch schlechter. Erst wenn ein Staatsmann die mangelhaften Beobachtungen der Statistik für gute Beobachtungen hält, für ebensolche Gesetze wie die Gesetze der Mechanik und wenn er auf Grund dieser vermeintlichen Naturgesetze höchst wirksame Staatsgesetze sich erfindet, erst dann kann ein Schaden entstehen, erst dann kann die Sinnlosigkeit des Begriffs "Gesetz" zu sinnlosen Gesetzen führen. Diese Möglichkeit ist in der Gegenwart freilich alltäglich geworden, ist aber durchaus nichts Anderes als die Torheit eines mittelalterlichen Staatslenkers, der abstrakte Begriffe für wirklich hielt, aus ihnen logische Schlüsse zog und z. B. ganz logisch aus dem Begriffe der Gottheit die Notwendigkeit ableitete, Ketzer zu verbrennen. Der lebendige Mensch schaudert vor dem, was er Greueltaten nennt; die Natur könnte darüber nur lachen (wenn das Lachen nicht wieder des Menschen allein wäre, sein bestes Teil) wie über jeden anderen Mißbrauch der Sprache.
Alle diese Beispiele aus ungleichen Zeiten und Gebieten, diese ganze Kunstgeschichte des Bildes "Gesetz", kann uns nebenbei lehren, was in der Kritik der Sprachwissenschaft vielleicht nicht scharf genug ausgesprochen war: dass wir die Geschichte der einzelnen Worte erkenntnistheoretisch nur dazu brauchen können, den Nebel überhaupt wahrzunehmen, der jedes einzelne Wort historisch umgibt. Wir glauben oft, Wortgeschichte befriedige nur unsere Neugier. Da haben wir aber das Wort "Gesetz", das von den besten Schriftstellern irrlichtelierend gebraucht wird, weil es unsichtbar von den Gespenstern verschiedener Jahrtausende umgeben ist. Die Gespenster der Ursächlichkeit und der Notwendigkeit sind auch für uns noch hieb- und stich- und kugelfest. Das Gespenst der Gesetzmäßigkeit aber verschwindet, sobald wir es fest und furchtlos angeblickt haben. (Mein "Wörterbuch der Philosophie" unter dem Schlagworte "causalitas".)
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