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Fortschritt

Darwin selbst ist zu vorsichtig und zu ehrlich, um so metaphysische Begriffe offen zu gebrauchen. Seine ganze Lebensarbeit aber liegt darin — so paradox meine Behauptung auch scheinen mag —, ebenso Moral, Mythologie oder wie man die Sache nennen mag, auf die Naturgeschichte anzuwenden, wie eigentlich Kant Moral oder Mythologie auf die Erkenntnistheorie angewandt hat. Kant hatte seine abstrakte Moral zu einem Muß für alle denkenden Wesen gemacht und ebenso seine Formen der Welterkenntnis zu einem Muß des Geistes. In ähnlicher Weise verstand es sich für Darwin von selbst — wenn er es auch nirgends ausdrücklich lehrt —, dass der menschliche Geist das Ziel der Entwicklung sei; und als seine Aufgabe sah er es an, die Entwicklung des einfachsten Organismus zum Menschengeiste hinauf zu erklären. Scheinbar aus Naturgesetzen, heimlich aus Zweckursachen. Das Protoplasma, die Zelle (oder wie man das Zeug nennen will) mußte sich zum Menschen entwickeln. Darwin sagt nirgends, dass er ein Materialist sei; aber es versteht sich ihm von selbst, eine mechanische Welterklärung zu suchen. Er sagt nirgends, nach welchem Maßstabe das Menschengehirn wertvoller sei als die Lebenskraft der Amöbe; aber es ist ihm selbstverständlich, dass er viel erklärt zu haben glaubt, wenn er die Entwicklung des höheren Organismus aus dem niederen erklärt hat. Das ist ja eben die Inkonsequenz aller materialistischen Theorien, dass sie den Gegensatz von Natur und Geist zwar leugnen, aber keine Sophistik verschmähen, um der Natur den Adel des Geistes zu verleihen; so wie unsere alten Demokraten ewig Gleichheit predigen, aber für sich persönlich gern das Aufrücken in eine höhere Gesellschaftsklasse durchsetzen möchten. Darwin war nicht so tölpelhaft wie unser Büchner, der immerwährend rief: "Es gibt nichts Geistiges, es gibt nur Kraft und Stoff! Seht wie geistreich ich die Kraft als den Geist des Stoffs hingestellt habe." Darwin ist ein unendlich feinerer Beobachter. Aber auch seine Lehre ließe sich in dem Widerspruch darstellen: "Es gibt in der Natur nichts Höheres und nichts Niedrigeres. Denn das Höhere entwickelt sich aus dem Niedrigern."

Hätte unsere Zeit das Bildliche im Begriff der Evolution festhalten können, sie hätte dem Begriff die Nebenbedeutung des Wertes niemals gegeben. Denn in der Auswickelung der Pflanzen aus dem Keim liegt nichts, was zu einer Vergleichung der Werte Veranlassung gibt. Die Wertschätzung ist immer und unter allen Umständen ein Verhältnis der Dinge zum menschlichen Interesse, aus dem Keim aber entwickelt sich die Pflanze und aus der Pflanze die Frucht, die wieder Keime enthält. Nicht einmal die Eeife bildet einen Schlußpunkt, sondern ebensogut einen neuen Anfangspunkt. Es ist eine frevelhaft menschliche Auffassung, die seit Spinoza nicht hätte zu Worte kommen sollen, dass die Evolution der Organismen zum Menschen, die Naturgeschichte also, eine Fortbewegung nach aufwärts, nach oben, nach dem Himmel zu sei. Das ist ebenso frevelhaft menschlich, wie die alte Lehre es war, unsere Menschenerde sei der Mittelpunkt des Weltalls und die Sonne drehe sich um uns. Aus dieser unveränderlichen Menschenreligion heraus ist der Fortschritt zum Besseren, der Zweckbegriff also, in die naturgeschichtliche Evolution hineingekommen. Aus dieser religiösen Sehnsucht heraus soll der Begriff der Evolution auch noch der Sehnsucht nach einer Zukunft dienen, nach neuem Recht, nach neuer Sitte. Über die Zukunft aber wissen wir noch weniger als über die Vergangenheit. Wollen wir ernsthaft den alten Aberglauben abschütteln, so ist der neue Begriff der Evolution für uns nichts weiter als ein neues zusammenfassendes Wort, das eine unklare Ahnung bezeichnet, wie wohl unsere Welt im einzelnen geworden sein mag. Dann aber, wenn wir den moralischen ZweckbegrifE nicht mehr mit dem Worte verbinden, ist es ein schlecht gewähltes Wort, hat es die letzte Spur seiner alten Bildlichkeit verloren und bedeutet nicht mehr als sein ehemaliges Synonym: explication. Es ist der noch ganz unfertige Versuch, die Geschichte der Natur durch Anpassung und Vererbung zu "explizieren", zu erklären. Diese beiden Begriffe (Anpassung und Vererbung nämlich) durch das Wort Evolution zusammen zu begreifen, ist eine Unklarheit mehr, eine vollkommen nutzlose Unklarheit, weil sie nicht den kleinsten Anfang einer neuen Hypothese gibt. Evolution ist ein überflüssiges, ein unnützes, ein sinnarmes Wort.

Wie gesagt: das alte Bild vom Pflanzenkeim paßte noch, als man die Welt aus Gott herauswickelte. Von Uranfang mochte die Welt implizite noch zusammengewickelt in Gott gelegen haben. Stark verwässert, aber immer noch fühlbar ist das Bild, wenn wir verstandesgemäß etwas zu explizieren suchen. Wir wickeln aus dem Begriff in Sätzen heraus, was wir in Sinneseindrücken hineingewickelt haben. Ganz verschwunden ist das Bild jedoch, wenn wir außerhalb unseres Denkens die Veränderungen der Welt immer noch als Evolution zu fassen versuchen. Worte leben nur, wenn sie Symbole sind, und Evolution ist uns schon wieder ein totes Symbol geworden; Worte bedeuten etwas nur dann, wenn sie erkennbare Zeichen sind, und Evolution hat aufgehört, etwas zu zeichnen. Auch in der Naturwissenschaft selbst scheint der Darwinismus durch die Mutationstheorie von Hugo de Vries überwunden zu werden.