Materialismus und Philosophie
Vom Standpunkte der Sprachkritik ist also der Unterschied gar nicht so groß zwischen dem Wortaberglauben des modernen naturwissenschaftlichen Materialismus und dem Wortaberglauben derjenigen Nachzügler, welche aus der Geschichte der Philosophie und der logischen Begriffsbearbeitung irgend eine neuscholastische Naturphilosophie sich und ihren Jüngern zurechtgebaut haben. Waren doch alle großen Philosophen von Platon bis auf Kant Männer, welche die Naturwissenschaften ihrer Zeit beherrschten und, einer architektonischen Neigung ihres Geistes folgend, sich bei einigen letzten Abstraktionen beruhigten, die sie dem Wortschatze ihrer Zeit entnahmen und mit künstlerischer Harmonie wie zu einem Stickmuster ordneten. Ihre Größe bestand in ihrem architektonischen Drang. Die Neuscholastiker, die sich nach ihnen heute zu nennen lieben, stehen darum so abgrundtief unter diesen hervorragenden Geistern, weil sie von der Naturkenntnis der Gegenwart absehen oder nichts wissen und ihre Gebäude aus toten Symbolen und toten Abstraktionen vergangener Zeiten errichten, wie Immermanns Münchhausen Häuser errichten wollte, zu denen er aus Luft gepreßte Ziegel nahm. Die Streitigkeiten dieser Philosophen um die toten Begriffe des Aristoteles und um die schlechtesten Begriffe von Kant erinnern mich immer an die Schmerzen, welche Leute, denen man ein Bein abgeschnitten hat, in den Nervenenden des abgeschnittenen Gliedes empfinden sollen. So quält sich die Menschheit mit den Schmerzen ihrer amputierten Vergangenheit. Viel wertvoller sind uns natürlich die Gedanken der Naturforscher, die am Ende einer gewissen Naturbeschreibung zum Versuche einer Naturerklärung kommen. Nicht Schelling und Hegel, nicht Trendelenburg und Schopenhauer oder gar der denkende Dichter Nietzsche sollten darum die Philosophen des 19. Jahrhunderts genannt und mit Platon und Kant verglichen werden, sondern Männer wie Darwin, der die letzte Abstraktion wenigstens aus dem Sprachschatze seiner Gegenwart schöpfte. Wenn aber kleine Gesellen wie Moleschott oder gar Büchner und neuestens Ernst Haeckel mit den toten Begriffen Atom und Stoff einen neuen Handel beginnen wollten, so war ihr Treiben für die kritische Betrachtung widerwärtig. Nur als Kanonenfutter im Kampfe gegen das Dogma sind solche Rekruten zu brauchen.
Unsere Materialisten berufen sich mit den Begriffen Stoff, Atom und allem ihren übrigen Wortaberglauben gern auf die großen Denker, auf den abseits stehenden Spinoza, der als der erste und beinahe als der letzte die absolute Kausalität im Weltgetriebe lehrte, auf die drei gewaltigen Kritiker Locke, Hume und Kant. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Spinoza die Welt der Notwendigkeiten deutlich als die eine Seite der Welt erkannte und dass die drei Kritiker nacheinander immer deutlicher die Unfähigkeit des Verstandes und seiner Sinnesorgane für die Welterklärung erkannten. Was sie uns hinterlassen haben, das ist die Aufgabe, die einstigen Fragen der Metaphysik zu Fragen der Psychologie umzugestalten, wie ich glaube und lehre, zu Fragen der Sprache. Wie wir in der Ethik dahin gelangen müssen, das Gewissen, anstatt uns darauf zu berufen, auf seine Entstehung und auf seine Bedeutung in der Sprache zu prüfen, so müssen wir die letzten Abstraktionen der modernen Naturphilosophie auf ihre Entstehung und ihre Bedeutung hin erst prüfen, bevor wir sie überhaupt anzuwenden wagen. Was uns am Materialismus allein sympathisch ist, seine Abkehr von Wundererklärung und seine Gegenständlichkeit, seine Freiheit von Kirchenknechtschaft, das ist in der Weltanschauung des Idealisten Kant als etwas Selbstverständliches mitenthalten. Nur darf man diese berechtigte Einseitigkeit aus Haß gegen die Kirche nicht überschätzen, und das ist vielleicht der schlimmste Fluch dieses jahrhundertelangen Kampfes gegen Voltaires "Infame", dass der Kampf gegen Dummheit und Heuchelei auch die besten Kämpfer schließlich dumm und verlogen macht. Als ob die Gleichheit des Bodens dies zur Folge haben müßte. Es wäre Zeit, die "Infame" von oben herunter zu bekämpfen.