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Integration

Da ist nun gleich das erste Wort von Spencers Definition hinreichend, um sie für meine Leser der bewußten Wort-macherei, ja eigentlich der Flunkerei verdächtig zu machen. Wir wissen, dass jede vollständige Definition eine Tautologie sein muß. Wir wissen also, dass eine Tautologie herauskommen wird, wenn Spencer in sechs Zeilen erklärt, welche Art von Integration er Entwicklung oder Evolution nennt. In unserem Falle aber ist die Flunkerei noch handgreiflicher, und die ganze Definition stellt sich als ein logischer Betrug heraus. Denn der von Spencer eingeführte Begriff der "Integration" ist selbst nur wieder ein anderes Wort für ganz genau dasselbe, was Integration erst in fünf scholastischen Zeilen werden soll: für Evolution oder Entwicklung. Selbstverständlich meine ich nur einen logischen Selbstbetrug; denn ein Mann von den Fähigkeiten Herbert Spencers setzt sein Leben nicht an einen Spaß, er schreibt nicht zehn von Arbeit strotzende Bände, um eine Tautologie zu beweisen. Wir werden sehen, dass selbst Spencer, trotz seines besseren Einblicks in das Wesen der Sprache, doch auch der alten Überschätzung der Sprache zum Opfer gefallen ist. Und mit einem unaussprechlichen Gefühl schaudernden Ekels frage ich mich in diesem Augenblicke wieder, worin ich selbst der Narr der Sprache bin, während ich sie zu meistern suche. Aber standhaft wie ein Esel im Homerischen Bilde will ich meiner Aufgabe treu bleiben und hier versuchen das Spiel aufzudecken, das mit dem Worte Integration getrieben wird.

Wenn Integration überhaupt etwas bedeutet, so will es diejenige Veränderung bezeichnen, durch welche Unzusammenhängendes zu etwas Zusammenhängendem, Unbestimmtes zu etwas Bestimmtem, Unordnung zu Ordnung, ein Haufe von Teilen zu einem Ganzen wird. Man gehe die Darstellung Spencers von einem Ende bis zum anderen durch, man wird immer finden, dass bei ihm Integration ursprünglich die Zusammenballung von Teilen zu einem Ganzen bedeutet, wie z. B. die Zusammenballung des Urnebels zu den einzelnen Himmelskörpern unseres Sonnensystems, dass Integration dann später bildlich solche Vereinheitlichungen in der Biologie und Soziologie bedeutet. Wäre Spencer also so klar wie Darwin und zugleich so naiv wie Darwin, so würde er ebenso wie Darwin die Schwierigkeit des Zweckbegriffs übersehen und banal gesagt haben: ich verstehe unter dem Worte Evolution den Fortschritt des Stoffs zu einem immer höheren Zusammenhang, zu immer höherer Bestimmtheit, zu einer immer höheren Ordnung, kurz zu einem höheren Ganzen. Spencer ist kritisch genug, um zu wissen, dass er so mythologische, moralische Begriffe wie "Fortschritt" und "höher" anstandshalber vermeiden müsse. Bewußt oder instinktiv ergreift er das auf diesem Gebiete ganz ungebräuchliche Fremdwort "Integration", welches nur die Vereinheitlichung besagt, glaubt damit der Evolution einen allgemeineren Begriff überordnen zu können und so Evolution philosophisch zu definieren. Es hilft ihm nichts. Kein Mensch kann mit seiner Sprache aus seiner Vorstellungswelt herausspringen, denn Sprachschatz und Weltanschauung ist eins und dasselbe. Was Spencer definieren will, der Begriff der Evolution, enthält unweigerlich, wenn auch noch so heimlich, die Nebenbedeutung des Fortschritts zu etwas Besserem. Und mag man den Begriff Integration noch so abstrakt fassen, auch ihm haftet dieses frevelhaft menschliche Werturteil unweigerlich an.

Selbst wenn wir unter Integration nichts weiter verstehen wollen als die Vereinheitlichung uneinigen Stoffs, so drängt sich dem vorurteilslosen Denken die Frage auf: bei wem denn die Entscheidung darüber liege, ob etwas eine Einheit sei oder nicht? Wir sind es gewohnt, die Organismen der Erde, Tiere und Pflanzen, Einheiten zu nennen. Schon da, wo die Sprache ihrer Sache am gewissesten zu sein glaubt, regt sich der Zweifel, ob einerseits nicht z. B. alle Menschen gleich wie Zellen sind gegenüber der sozialen Einheit, der Menschheit, und ob anderseits das Kind im Mutterleib, die Frucht an der Pflanze selbständige Einheiten sind oder zu dem mütterlichen Organismus als Teile gehören. Bis in Fragen des Rechts greifen diese Bedenken hinein. Noch viel ungewisser darüber sind wir, wann und warum ein Stein, ein Metallstück ein Ganzes, eine Einheit genannt zu werden verdiene. Sicherlich dann, wenn menschliches Interesse es abgesondert hat. Aber wann und warum in der Natur? Und sind die einzelnen Planeten unseres Sonnensystems auch gewiß und natürlich besondere Einheiten, besondere Ganze zu nennen? Vielleicht ist dem gar nicht so, vielleicht treibt ein unbekanntes Ganze diese unsere Erde mit den übrigen Planeten im Äther um die Sonne herum nur für unsere Augen, für uns mit Nerven und Gehirn ausgestattete Arten der Schimmeldecke der Erde, die wir uns — um den übrigen Schimmel essen zu können — das Sehen angewöhnt haben und die Augen und die übrigen Sinne und die wir uns dazu — um das Eßbare besser unterscheiden zu können — das Gedächtnis oder die Sprache angewöhnt haben und die wir mit Hilfe dieser Magd unserer Begierden, der elenden menschlichen Sprache, diese Erde und die anderen Planeten spielend Einheiten nennen. Noch einmal: wer lehrt uns Einheiten zusammenfassen? Nur unsere Sprache, das ist der Ausdruck unseres vom Interesse geleiteten Gedächtnisses, läßt uns das Chaos der Welt zusammenfassen, bestimmen, ordnen, in ganzen Einheiten merken. So werden wir uns jetzt schon sagen und damit über Spencer hinausgelangen: dass die Entwicklung der Dinge, die viel gerühmte Evolution, freilich auch als Integration bezeichnet werden könne, weil sie nicht ein Erfahrungsbegriff aus der Wirklichkeitswelt ist, sondern eine Bequemlichkeit unseres Denkens oder unserer Sprache, je nach dem Stande unserer Beobachtungen zu benennen, was wir nicht begreifen. Wohl hat Spencer recht, aber ganz anders, als er es versteht: wir begreifen die Natur nicht, wir legen in sie die Entwicklung, das Streben nach höheren Zwecken erst hinein, und wenn wir bescheiden sein wollen, so nennen wir diese unsere letzte arme Religion das ewige Streben zum Ganzen: die Integration. Ordnen wollen wir die Natur, um in ihr nicht unterzugehen; aber Ordnung ist nicht wirklich, Ordnung ist nur eine Sehnsucht der menschlichen Sprache. Ahnungsvoll hat einmal Spinoza den Begriff der Ordnung neben die moralischen Begriffe gestellt, die von uns sind, nicht von Natur.

Mit dieser Auflösung des Begriffs Integration scheint mir die ganze scholastische Definition Spencers vernichtet zu sein. Aber er gebraucht noch weiter Begriffe, die auf der eisigen Höhe solchen Denkens ihren Sinn verloren haben. Er lehrt, dass die Evolution zugleich eine Sammlung des Stoffs und eine Zerstreuung der Bewegung sei. Er denkt dabei z. B. an die Entstehung eines Planeten, wo zugleich der Stoff sich zu einer Kugel zusammenballt und dabei z. B. Wärme erzeugt, welche — Wärme ist ja Bewegung — fortwirkend andere Veränderungen hervorbringt. Er wendet dieses Bild der Evolution dann, wie gesagt, sehr hübsch auf andere Konzentrationen von Stoff und Fortwirkungen der Bewegung an, auf Biologie und Soziologie. Wer aber sagt uns, was Stoff ist? Wer, was Bewegung? Es sind das für uns mythologisch gewordene Begriffe, mit Hilfe deren die alte Mechanik sich in der Wirklichkeitswelt zurechtfand und sogar Maschinen erfand und berechnete; aber gerade in unseren Tagen ist die Mechanik selbst im Begriff, die alten Worte preiszugeben, weil immer nur eines durch das andere erklärt werden kann, weil weder ein Stoff noch eine Bewegung an sich in der Welt der Wirklichkeiten wahrzunehmen ist. Man schickt sich an, von "Energie" zu sprechen und Stoff und Bewegung nur noch als verschiedene Erscheinungsformen, als Blendwerke der Energie aufzufassen. Ich fürchte, wir werden mit dem Worte Energie nicht weiter kommen als die alte Mechanik mit dem fast gleichbedeutenden Worte "Moment". Worauf es mir hier aber ankommt, das ist der Hinweis darauf, dass Spencer bei seinem obersten Gesetz nicht umhin kann, Worte ohne Legitimation zu gebrauchen, Worte, die körperlos und haltlos in unserem Gedächtnis oder unserem Sprachschatz schweben, gleich wie Götter einer sterbenden Eeligion, und die so wenig freiwillig ins Exil wandern wollen wie abgesetzte Götter und abgesetzte Könige.