Kraft und Stoff
Der Streit um den Materialismus wird am heftigsten auf dem Gebiete geführt, wo man hüben und drüben die Märchen über Gehirn und Seele zum besten gibt. Unsere Materialisten mußten freilich an ihre Unfehlbarkeit glauben lernen, wenn sie sahen, wie man ihnen ein Gebiet der Natur nach dem anderen überließ und ihnen schließlich nur noch den menschlichen Geist streitig machte. Wenn es aber richtig war, dass der Materialismus den menschlichen Leib mit seinen mechanischen, chemischen und physiologischen Erscheinungen befriedigend erklärte, dann war wirklich die Herleitung des Denkens aus dem berühmten Stoff nur eine Frage der Zeit. In Wahrheit aber ist der Materialismus auch den mechanischen, chemischen und physiologischen Erscheinungen gegenüber die letzte Erklärung heute noch ebenso schuldig, wie er es vor zweitausend Jahren war.
Newtons Gravitationslehre hat in genialer Weise die Formel vereinfacht, unter welcher wir uns die Anziehung der Körper und ihrer gedachten kleinsten Teile vorstellen können; an Stelle der abenteuerlich geformten Atome, wie man sie sich von Demokritos an konstruiert hatte, konnten jetzt formlose mathematische Punkte treten, und die Ziffer allein kam zu ihrem Recht. Gerade aber in diesen mathematischen Punkten der modernen Atomenlehre verflüchtigte sich der Stoffbegriff völlig, und das Atom wurde zur unendlich kleinen Krafteinheit, die durchaus an keine noch so minimale Stoffeinheit mehr gebunden gedacht werden mußte. Die Trennung aller Ursachen in Kraft und Stoff ist eine sinnlose Benützung alter Worte; denn wenn man alle Erscheinungen oder Wirkungen auf die bekannten Kräfte zurückgeführt hat, bleibt für den Stoff nicht das kleinste Feld der Wirksamkeit mehr übrig. Als ob der Stoff nichts Wirksames, nichts Wirkliches wäre. Die Trennung der Begriffe Kraft und Stoff ist dem naiven Empfinden ganz geläufig; wenn mir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, so unterscheide ich seinen Stoff und seine Kraft von dem Stoffe und der Kraft eines fallenden Regentropfens. Aber nur das brutale Empfinden macht einen solchen Unterschied zwischen dem mechanischen Stoß, dessen Kraft nach den Fallgesetzen berechnet wird, und den sogenannten stofflichen Eigenschaften des Ziegelsteins, welche doch wieder nur Äußerungen chemischer Kräfte sind. Die Atome des Ziegelsteines hätten mir kein Loch in den Kopf schlagen können, wenn nicht chemische Kräfte ihnen gerade diese Erscheinung gegeben hätten. Die Gravitation Newtons bringt nur die am allgemeinsten verbreitete Anziehung der Körper auf die einfachste Formel und schließt die besonderen Fälle der chemischen Anziehung vorläufig aus, weil die Formel nicht paßt. Das ganze 18. Jahrhundert quält sich darum, für die chemischen Kräfte ein ebenso hübsches Wort zu finden, wie es in der Gravitation für die allgemeinste mechanische Kraft sich dargeboten hat, und wir sind heute noch über den bildlichen Ausdruck der Verwandtschaft (früher Affinität, philia, rapport) nicht hinausgekommen. Und wenn es demnächst gelingen sollte, in der Elektrizität die Kraft zu entdecken und dem Kalkül zu unterwerfen, welche sowohl die Gravitation zwischen Fixsternen als die chemischen Veränderungen einander berührender Elemente bewirkt, so wäre doch wieder nur das Spiel der Kräfte auf einen einfacheren Ausdruck gebracht, der Stoff wäre neben der Kraft nur noch überflüssiger geworden. Der Begriff "Stoff" bliebe nach wie vor der brutale Ausdruck für die Tatsache, dass wir uns an den Körpern stoßen, dass uns ein Ziegelstein ein Loch in den Kopf schlagen kann. Die Wissenschaft konnte es immer nur mit Kräften zu tun haben, und es ist spaßhaft zu lesen, wie im Anfange des 19. Jahrhunderts schließlich die Wissenschaft selbst auf diese brutale Tatsache gestoßen wurde und neben den Atomen, die mathematische Punkte blieben, Moleküle annahm, als die kleinsten Stoffteilchen, ohne welche man sich die greifbaren Stoffe nicht erklären konnte. Man kann wohl sagen, dass die Atome der vornewtonischen Zeit weit eher unseren Molekülen entsprachen als unseren mathematischen Atomen; auch nehmen unsere Moleküle, gleich den alten Atomen, in der Vorstellung der Forscher schon wieder die niedlichsten Formen an, man gruppiert die ausdehnungslosen Atome ganz anmutig, zu geformten Molekülen, glaubt sie sich dadurch geometrisch vorzustellen, während man ausdrücklich zugibt, dass diese geometrische Vorstellung der Wirklichkeit unmöglich entsprechen könne. Die Bewunderer des modernen Materialismus berufen sich darauf, dass mit Hilfe dieser Molekulartheorie und dieser Atomistik eine außerordentlich große Anzahl neuer Stoffe hergestellt worden ist. Aber alle die neuen Stoffe beweisen nicht, dass es auf der Welt neben den angenommenen Ursachen, die wir Kräfte nennen, noch einen besonderen Stoff gebe. Wir haben sehr viele Beobachtungen gesammelt und nützen sie aus. Die obersten Sammler, welche scheinbar unabhängig und auf der Höhe der Wissenschaft für die chemischen Fabriken tätig sind, nennen sich Forscher und Gelehrte. Von einer Erklärung ihrer Beobachtungen sind sie aber so weit entfernt, dass es fraglich ist, ob sie die Gesamtheit ihres technischen Wissens eine Wissenschaft nennen dürfen. Der Erfinder des Telephons war ein weit scharfsinnigerer Mann, als es die Tausende sind, welche seine Erfindung gebrauchen; doch weder der Erfinder noch der telephonierende Ladenjüngling weiß, was Elektrizität sei. Wir leben ja auch, ohne zu wissen, was das Leben sei.
Einer der erfolgreichsten Chemiker unserer Zeit, Kekulé, den die Großkaufleute der chemischen Industrie mit Recht als ihren Heros gefeiert haben, weil seine neue Benzoltheorie Geld ins Land brachte, hat in seinem Lehrbuch mit der vollendeten Klarheit des ersten Beobachters zwischen Tatsache und Hypothese unterschieden. Er weiß, dass nur die Proportionszahlen den Wert von Tatsachen haben, dass alle Angaben über stoffliche Atomgewichte auf Hypothesen beruhen. Und doch hat gerade sein Bild von der geometrischen Anordnung der Atome sich in den Köpfen festgesetzt, und weil das Geschäft dabei blüht, so preisen es die Schüler allerorten. Wie in diesem Falle, so ist es bei ehrlichen Versuchen der Welterklärung immer geschehen. Der naive Mensch steht vor dem Stoff wie der Ochse vor dem Berg; der Stoff ist ihm die brutale Tatsache, und die geheimen Kräfte des Stoffs sind unsichtbare Götter, die ihm so lange hypothetisch vorkommen, bis sie ihm Vorteil bringen. Ist die simple Tatsache des Stoffs aber erst analysiert, das heißt in Kräfte zerlegt (denn jeder Stoff ist nur die Resultierende von Kräften), so werden die Kräfte zu wissenschaftlichen Tatsachen, und ihr Stoff wird zur Hypothese.
So ist das Atom als der Begriff eines unendlich kleinen Stoffteilchens, gerade durch und für den Materialismus überflüssig geworden. Was für den Chemiker und überhaupt für den Naturforscher an den Dingen der Stoff ist, das ist ihre Masse; das Atom ist eigentlich nur das minimale Einheitsmaß der Masse. Es ist ebenso unwirklich wie es das Unendlichkleine ist, wodurch man einen Millimeter messen wollte. Auch bei den Massen ist nur ihr Verhältnis eine Tatsache. Und da — wie Friedrich Lange sehr fein hervorgehoben hat — selbst das Greifen und Fassen, geschweige denn das Sehen und Hören nur durch die ungreifbaren und unfaßbaren Kräfte im Menschengehirn bewirkt wird, da also der Stoff sich nicht nur für die Wissenschaft in Kräfte auflöst, sondern auch im naivsten Menschen die Vorstellung jedes Stoffs nur durch Kräfte erzeugt wird, da endlich selbst der brutale Begriff der Masse ein mathematischer Begriff geworden ist, geht es für die unbefangene Erkenntnis nicht länger an, als Ursache der uns geläufigen Erscheinungen den Gegensatz von Kraft und Stoff anzunehmen. Die Ursache kann — da wir doch über unseren Sprachgebrauch nicht hinauskommen — nur entweder ein unbekannter Stoff mit verschiedenen unerklärten Eigenschaften sein oder ein unbekannter Zusammenhang verschiedener unerklärter Kräfte. Wenn wir nun alle Eigenschaften der Körper, und das tut doch die Naturwissenschaft, auf Naturkräfte zurückgeführt haben, so bleibt in der weiten Welt unserer Vorstellungen für den Stoff kein Schlupfwinkel übrig. Denn was man sich unter Stoff denkt, ist ja doch nur der körperliche Rest, nachdem von einem Körper alle Eigenschaften hinweggedacht worden sind; ein Substantiv ohne seine Adjektive; dieser körperliche Rest existiert aber gar nicht, denn der Körper ist nur der Inbegriff seiner sämtlichen Eigenschaften (vgl. III. 8). Wenn man aus einer Summe sämtliche Addenden herausstreicht, so mag man die Null, die sich dann ergibt, meinetwegen eine Summe nennen; in der Wirklichkeitswelt gibt es keine Null, gibt es keinen Stoff. In der Mathematik kann man aber wenigstens deutlich zwischen der Null und dem Unendlichen unterscheiden. Die Null an den Körpern, der Rest, welchen wir den Stoff nennen, erhält in der Wortmacherei des Materialismus ganz von selbst das Prädikat unendlich. Der Grund ist in der psychologischen Entstehung des Begriffs zu suchen. Das wäre ganz deutlich, wenn die Sprache nicht in ihrem schlechten Gewissen immer neue Abstraktionen für die Abstraktion Körper gebildet hätte. Was dem Begriff "Stoff" zugrunde liegt, ist immer die naive Vorstellung von einem Körper, an dem man sich stoßen kann. In früherer Zeit wurde die Luft nicht zu den Körpern gerechnet. Heute weiß man, dass die brutale Körperlichkeit eines Dings eine andere wäre auf der Oberfläche des Mondes und auf der der Erde, auf Erden eine andere je nach der Entfernung vom Mittelpunkte der Erde, eine andere je nach der Temperatur usw. Unsere Vorstellung vom Körperlichen ist uns aber seit Jahrtausenden so geläufig geworden, dass wir uns immer noch, trotzdem die Körperwelt in ein Spiel von Kräften aufgelöst worden ist, die Kräfte als an etwas extra Körperliches angebunden vorstellen. Und es ist eigentlich völlig gleich, ob wir das: "Etwas" oder "ein Körperliches" nennen. Das Wort, an welchem wir uns ein Abstraktum von allen Körpern vorstellen oder vielmehr ein Bild, ist Materie oder Stoff oder Etwas, und dieses Etwas ist für den Materialismus das Ding-an-sich, der unendliche Stoff, das Körperliche, das verborgene Pferd, welches der Bauer in der Dampfmaschine vermutet, wie Friedrich Lange einmal gesagt hat.
Der Wortaberglaube in den Begriffen Kraft und Stoff drängt sich bei unmittelbarer Beobachtung der Naturvorgänge so sehr auf, dass sogar Du Bois-Reymond in besseren jüngeren Jahren (Untersuchungen über tierische Elektrizität 1848, Vorrede) das Trügerische in diesem Gegensatze erkannt hat. "In den Begriffen von Kraft und Materie sehen wir wiederkehren denselben Dualismus, der sich in den Vorstellungen von Gott und der Welt, von Seele und Leib hervordrängt. Es ist, nur verfeinert, dasselbe Bedürfnis, welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und Meer mit Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevölkern. Was ist gewonnen, wenn man sagt, es sei die gegenseitige Anziehungskraft, wodurch zwei Stoffteilchen sich einander nähern?" Der Geschichtsschreiber des Materialismus bemerkt zu dieser Stelle sehr geistreich: "Unser Hang zur Personifikation oder, wenn man mit Kant reden will, was auf dasselbe hinauskommt, die Kategorie der Substanz nötigt uns, stets den einen dieser Begriffe als Subjekt, den anderen als Prädikat aufzufassen. Indem wir das Ding Schritt für Schritt auflösen, bleibt uns immer der noch nicht aufgelöste Rest, der Stoff, der wahre Repräsentant des Dinges. Ihm schreiben wir daher die entdeckten Eigenschaften zu. So enthüllt sich die große Wahrheit ,kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff' als eine bloße Folge des Satzes ,kein Subjekt ohne Prädikat, kein Prädikat ohne Subjekt'; mit anderen Worten: wir können nicht anders sehen, als unser Auge zuläßt; nicht anders reden, als uns der Schnabel gewachsen ist; nicht anders auffassen, als die Stammbegriffe unseres Verstandes bedingen."
Aber diese Darlegung beweist nur, dass sowohl Lange als Du Bois-Reymond nicht ganz die Sprache ihrer Zeit reden, nicht wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sondern wie den Leuten verschiedener Zeiten verschiedene Schnäbel gewachsen sind. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat kann irgendwie umgekehrt werden, nicht das von Kraft und Stoff. Die gegenwärtige Naturwissenschaft, das heißt die Sprache unserer Zeit, versucht sämtliche Eigenschaften der Dinge, wo doch kein stofflicher Rest zurückbleibt, in Kräfte aufzulösen, das heißt mathematisch auszudrücken. Wer konsequent die Sprache unserer Zeit reden will, der darf darum gar nicht mehr vom Stoff reden, sondern nur noch von Kräften. Wer Kraft und Stoff wie Prädikat und Subjekt behandelt, der vermischt unwissentlich die Sprachen verschiedener Zeiten; er könnte ebensogut sagen: die Sonne dreht sich nach den Gesetzen der Gravitation in einer elliptischen Bahn um die Erde. Ich aber möchte hinzufügen, daß, nachdem der Kraftbegriff allein vom Stoffbegriff noch übrig geblieben ist, die Kritik des Kraftbegriffs einzusetzen hat bei dem allgemeineren Begriffe der Kausalität; das ist die letzte der alten Kategorien, welche wir, auch wenn wir noch so radikal denken, aus unserem Verstande nicht herauszubringen vermögen. Der Stoffbegriff jedoch ist unter aller Kritik.
Neuerdings hat W. Ostwald, der den alten Materialismus durch den wirklich gleichwertigen "Monismus" (vgl. den Artikel "Monismus" in meinem "Wörterbuch der Philosophie") ersetzen helfen möchte, mit fast pedantischem Eifer den Kraftbegriff überall durch den Energiebegriff zu überwinden geglaubt. Seine philosophischen Schriften bieten trotz mancher Schrullen viel Anregung.
Der Materialismus lehrt seit alter Zeit die Unzerstörbarkeit des Stoffs oder der Materie; die vorurteilslosere Naturwissenschaft unserer Tage hat die überkommene Vorstellung nur in unserer Sprache ausgedrückt, als sie wiederum das Wort von der Erhaltung der Energie, das heißt der Kräfte aufbrachte. Denn nachdem alle Erscheinungen am Körperlichen in Kräfte aufgelöst waren, konnte das Unzerstörbare nur noch in den Kräften gesucht werden. Ganz von selbst schlich sich dann für den körperlichen Ausdruck Unzerstörbarkeit das abstraktere Wort Erhaltung ein; und in dem Worte Energie verrät sich die Ahnung, dass man die Mehrzahl der Kräfte noch einmal auf verschiedene Formen einer einzigen Kraft zurückführen werde, wie denn auch die Zahl der waltenden Naturkräfte schon jetzt bedeutend geringer ist als die Zahl der mehr als siebzig Elemente, in welche man nach Erkenntniszwecken den Stoff einteilen mußte. Hier sehen wir aber auch sofort den Grund, warum auch die freiesten Köpfe bei Behandlung solcher Fragen die Sprachen verschiedener Zeiten durcheinander mischen müssen. Es sind nämlich die verschiedenen Disziplinen gewissermaßen nicht gleichzeitig fortgeschritten und so nicht gleichzeitig auf der Höhe des kritischen Denkens angekommen. Die allgemeinste mathematische Naturbetrachtung hält bei der Erhaltung der Energie und blickt auf die siebzig und mehr Elemente als auf ein vorläufiges Stadium zurück; der Forscher, welcher für chemische Fabriken arbeitet, kann wiederum mit den letzten Prinzipien nicht viel anfangen und muß sich noch an die Elemente halten. Wir können noch weiter gehen und sagen, dass der praktische Arzt noch vielfach an die Beobachtungen und damit an die Sprache der Alchimistenzeit, der praktische Jurist an die Tatsachen und damit an die Sprache noch älterer Epochen gebunden ist. Alle diese Leute glauben dabei, die Bildung der Gegenwart in sich aufgenommen zu haben und die Sprache der Gegenwart zu reden. Sie reden auch mit dem ordinären Büchner von Kraft und Stoff. Beide Worte sind aber Gespenster; die Braven, die mit ihnen kämpfen, wissen es nur noch nicht. Frischer als einer der Philosophen hat das ein Dichter ausgesprochen, Flaubert, der auch sonst den Schlangentrug der Worte durchschaute. Er schreibt (1868, Lettres à sa nièce Caroline S. 95): "Je ne sais pas ce que veulent dire ces deux substantifs, Matière et Esprit; on ne connaît pas plus l'une que l'autre. Ce ne sont peut-être que deux abstractions de notre intelligence? Bref, je trouve le Matérialisme et le Spiritualisme deux impertinences égales."
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