Individuum
Man sieht, die ganze Untersuchung läuft auf die Frage hinaus: Was ist ein Individuum? Der moderne Realismus erfaßt alle Art- und Gattungsbegriffe als bloße Worte, schiebt die Frage nach der Entstehung dieser Arten und Gattungen zurück und erklärt mit dem scholastischen Nominalismus das Individuum allein für wirklich. Unser naives Bewußtsein, unser Stolz sträubt sich mit Lebenskraft, ja mit Todesangst dagegen, anzuerkennen, dass selbst der Begriff der Individualität sich nicht länger wie bisher festhalten lasse. Die Zoologie gibt schwindelerregende Beispiele dafür, dass die Individualität im Tierreich anders sein könne als diejenige Individualität, die wir Menschen einzig und allein in unserem Selbstbewußtsein vorfinden. Wenn der Seestern zerschnitten wird und so durch die Willkür des Zerschneiders zwei Seesterne entstehen, wenn die Siphonophore viele Individuen zu einem Staate vereinigt, der doch wieder eine Art Individualität hat, wenn im Generationswechsel so zahlreicher Tiere das eine Individuum ganz oder teilweise aufgebraucht wird, um ein anderes Individuum zu bilden, wenn der Bandwurm oder der Schmetterling durch Formen hindurchgeht, die sich voneinander stärker unterscheiden als ein Mensch und eine Schlange, dann begreift der Beobachter, dass der menschliche Begriff Individuum nicht auf jedes Tier angewendet werden kann. Und hat der Bienenstaat, der Ameisenstaat nicht, trotz der körperlichen Trennung der einzelnen Tierchen, manche Ähnlichkeit mit der Siphonophore? Und der Menschenstaat? Wird nicht durch die Tatsache der Vererbung das Individuum fortgesetzt, also der Begriff der Individualität doch wieder umgeformt?
Es ist also nicht ganz leicht mit dem Denken aufzuhören, wenn man die Individuen als einzige Eealitäten aufgefaßt hat. Aufwärts und abwärts fließt die Grenze der Individualität. Eeal ist uns die Zelle nur, weil unsere Sinne, auch die bewaffneten, sie nicht teilen können; die Zelle ist das hypothetische Atom der Biologie.
Sehen wir nun von der objektiven Individualität ab und fragen wir nach dem subjektiven Gefühl, welches jeder Mensch nur für sich selbst empfindet: ich bin ein Individuum. Wer dieser Empfindung nicht glauben wollte, wer seinen eigenen Körper nicht als eine Individualität betrachten, sondern ihn auch praktisch als bloße Form auffassen wollte, als ein fremdes Strombett für unaufhörlich wechselnde Moleküle und Molekularbewegungen, der würde verrückt scheinen und es wahrscheinlich auch sein. Wenn ich esse, liebe, denke, kämpfe, so handle ich als Individuum, kümmere mich den Teufel um meine Erkenntnistheorie und halte den Schein der Individualität für Wirklichkeit. Dafür heiße ich auch ein verständiger Mensch. Dabei durchschaue ich aber heimlich diesen Schein und weiß, dass das Selbstbewußtsein oder der Schein der Individualität mit meinem Gedächtnis irgendwie zusammenhängt, dass ich mich als Individuum fühle, weil mein Gedächtnis die Empfindungen aufeinanderfolgender Zeitteilchen verbindet, weil mein Gedächtnis das Strombett von jedem Punkte bis in die Nähe der Quelle zurückverfolgt (vgl. I. 661 ff. und "Wörterbuch der Philosophie" Art. "Individualismus"). Die Geschichte der Auftrennung, Aufdröselung des Individualbegriffs kann ich nicht geben; es wäre doch nur die Geschichte von erschreckenden Ahnungen. Niemand hat vor der Kritik der Sprache das Ichgefühl als eine Täuschung klar durchschaut. Am klarsten noch Novalis, trotzdem er in seinem abgründigen, sprachlich oft berückenden Philosophieren von dem starken Individualisten Fichte herkam. Einige Notizen des Novalis gehören her: "Das Gedächtnis ist der Individualsinn, das Element der Individuation" (Ausg. Heilborn II. 584). "Ein Individuum ist ein magisches, willkürliches Prinzip, ein grundloses Leben, ein persönlicher Zufall" (S. 200). Aber auch: "Alles läßt sich beschreiben — verbis. Alle Tätigkeiten werden von Worten, oder können von Worten begleitet werden, wie alle Vorstellungen vom Ich" (S. 585). Man achte wohl auf diese Stelle. Vorstellungen werden vom Ich "begleitet"; das Ich ist also für Novalis nur in Worten vorhanden, in der Sprache, die ich Gedächtnis nenne. Das Ichgefühl ist eine Täuschung der Sprache. Auf Machs Verdienst um die Kritik des Ichbegriffs habe ich oft hingewiesen. O. Liebmann zitiert Condillacs das Ich zerstörende Worte und fragt: "Wie müßte 'Le Moi' der Laura Bridgeman ausgesehen haben?" (Psycholog. Aphorism. XIX.)
Wenn das alles wahr ist, dann ist der moderne Realismus doch nur eine vorläufige, ihrer vorläufigen Roheit sich ganz gut bewußte Weltanschauung. Real sind nur Individuen; Individuen aber sind außerhalb unserer Sprache oder unseres Denkens oder unseres Gedächtnisses unauffindbar, wir kennen also kein Reales. Selbst die einzelnen Menschen sind objektiv nur runde, räumlich von der übrigen Welt abgeschlossene Organismen, die Zeit ihres Lebens einen bestimmten Namen tragen —; subjektiv: Individualgedächtnisse, die übrigens auf nichts sicherer und lieber reagieren als auf den Namen, den sie objektiv bei den Mitmenschen besitzen. Ein Sterbender reagiert noch im Koma auf Nennung seines Namens.