Spencer
Womöglich noch deutlicher ergibt sich dann die Unfähigkeit der Metaphysik, ohne Sprachkritik aus dem Zirkelbann der Religion zu kommen, wenn dem Unerkennbaren gar kein Mäntelchen mehr umgehangen wird, wenn es mit affektierter Negation und Einfachheit eben das "Unerkennbare" genannt wird und trotzdem die Sprache (und ihr unterworfen der Philosoph) metaphorisch-religiöse Deutungsversuche macht; dies ist der Fall bei Herbert Spencer, der freilich an vielen Stellen die öffentliche Meinung bittet, ihn für keinen Umstürzler zu halten, der aber doch wohl mit seinen "Grundlagen der Philosophie" Ernst zu machen glaubt. So nahe er häufig der Wahrheit kommt, dass das Denken oder die Sprache nichts sei als das Gedächtnis der Menschheit und des Individuums, dass also mit Hilfe der Sprache nichts erschlossen werden könne, als was wir schon wissen, er strebt dennoch nach einer Versöhnung der Wissenschaft (an die er glaubt) mit der Religion (die er glaubt oder die zu glauben er glauben machen möchte). Seine Religion ist eine äußerst sublimierte, homöopathisch verdünnte; aber sie will immer noch Religion sein; sie opfert ihren Namen nicht.
Spencer ist so tolerant, dass er in seiner Grundlegung der Philosophie (übersetzt von Vetter S. 561) zu folgendem feierlichen Ergebnis kommt: das "unaustilgbare Bewußtsein, in welchem Religion und Philosophie mit dem gemeinen Menschenverstande eins sind, stellte sich zugleich als die Grundlage heraus, auf der alle exakte Wissenschaft aufgebaut ist". Diese bemerkenswerte Höflichkeit gegen den common sense geht scheinbar und etwas heuchlerisch (vielleicht aber nur englisch) durch das ganze Denken dieses Mannes. Sucht er doch gleich zu Anfang die Wissenschaft damit zu verteidigen (S. 18 u. f.), dass sie nur eine höhere Entwicklung des alltäglichen Wissens sei, womit er vollkommen recht hat, wobei er nur nicht sieht, dass es eben wohl ein reicheres Wissen, aber niemals eine "höhere" Wissenschaft gibt.
In seinem Versöhnungsversuch geht er von einem argen Schnitzer aus. Weil in den historischen Berichten der Grundsatz gelten mag, dass an jeder allgemein angenommenen Behauptung irgend ein Körnchen Wahrheit sei, dass Rauch nie ohne ein Fünkchen Feuer sei, darum glaubt er schließen zu müssen, "dass die Religionen, obgleich auch nicht eine derselben wirklich wahr sein mag, doch alle wenigstens Schattenbilder einer Wahrheit sind". Der Ausdruck ist äußerst vorsichtig, bis zur Torheit vorsichtig. Er hält sich und seinen Anhängern die Möglichkeit irgend einer allgemein selig machenden Religion offen; er will ferner nicht etwa ein Stückchen Wahrheit, und wenn es noch so klein wäre, sondern nur ein Schattenbild aus ihnen allen herausziehen. Sodann ist sein Vorgehen der lauterste Wortdienst. Als ob man aus einem Begriff jemals herausentwickeln könnte, was man nicht vorher hineingewickelt hat, und als ob umgekehrt zwischen Denken und Sprechen ein Unterschied wäre, "beweist" er mit großem Aufwand von "unendlich" und ähnlichen Worten, dass jede positive Religion unmöglich "gedacht" werden könne, dass sowohl Atheismus als Theismus als Pantheismus auf Voraussetzungen beruhe, die "in Gedanken nicht wiedergegeben werden können". (Nur dass alle diese Dinge mit Worten gesagt, das heißt gedacht worden sind und noch werden.) Wenn aber keine einzige religiöse Lösung des Weltproblems befriedige, wenn der Forscher trotzdem nach einem Körnchen Wahrheit in den Irrtümern suchen müsse, so bleibe als Gemeinsames aller Religion der Gedanke übrig: es ist ein Problem vorhanden. Mit anderen Worten, Spencer geht davon aus, dass auf eine bestimmte Frage unzählige, einander widersprechende Antworten gegeben worden seien, er lehrt sodann, dass zwar nicht in einer der Antworten, wohl aber in ihnen allen etwas Wahrheit stecke, und endet mit der Entdeckung, dass dieses Stückchen Wahrheit in der hohen Weisheit stecke: es ist eine Frage da. Spencer formuliert sehr hübsch den Standpunkt der fortgeschrittensten christlichen Theologie mit dem Satze: "Zu denken, dass Gott so sei, wie wir ihn uns denken können, ist Gotteslästerung"; er hat recht, wenn er darin ein Eingeständnis sieht, dass das Wesen, welches sich im Universum offenbart, unerforschlich sei. Das ist die Lehre unseres Meisters Eckart.
Es liegt im Wesen der "Wissenschaft", dass sie vom Vorstellbaren zum Unvorstellbaren fortschreitet; Wissenschaft ist Erfahrung oder Sachkenntnis in Begriffen oder Worten und eigentlich beginnt die Unvorstellbarkeit schon mit dem einfachsten Begriff. "Baum" ist schon unvorstellbar. Das alles weiß Spencer, aber er weiß nicht, dass alle Worte oder Begriffe, alle, symbolisch oder metaphorisch sind, und hält bloß die abstraktesten Worte, die äußersten Universalien, für symbolisch, für unrealisierbar. Darum wendet er wieder, wie bei der Religion, Sophismen und Wortkämpfe auf, um nachzuweisen, worüber heute die forschende Welt einig ist: dass nämlich die Wissenschaft ungelöste Fragen übrig läßt oder vielmehr, dass sie überall auf unlösbare Fragen stößt, auf Probleme. Es wäre gar nicht nötig gewesen, Widersprüche in den Begriffen Kraft, Stoff, Bewegung usw. nachzuweisen, es wäre nicht nötig gewesen, abermals mit dem (für mein Sprachgefühl) durchaus theologischen W'ort "unendlich" zu spielen. Es liegt für jeden Kopf, in den die Grundbegriffe der modernen Mechanik und Biologie hineingegangen sind, klar und sicher da, dass wir den vielgerühmten Kosmos, die Wirklichkeitswelt, durchaus und gründlich begreifen würden, wenn wir auch nur das kleinste Teilchen, ein Sandkorn oder ein Moosblättchen, durchaus begriffen hätten, dass wir aber die Ursachen der Welt so wenig kennen — wie dieses Sandkorn oder dieses Moosblättchen. Wir wissen alle, dass wir nichts wissen, dass uns das Wesen unserer Vorstellungsakte ebenso unerkennbar ist, wie das Wesen der vorgestellten Dinge, das "Ding-an-sich" ebenso unerkennbar, wie das Gesetz seiner Wirkung auf unsere Sinnesorgane und auf unser Gehirn. Spencer aber schielt bei solchen Erörterungen immer nach der Religion (weil er sie schonen möchte) und nennt das ewige Problem mit Worten wie: "letzte Ursache", "das Unendliche", das "Absolute". Und ganz und gar theologisch fährt er fort (S. 80 u. f.): "Zwischen dem Schaffenden und dem Geschaffenen muß ein Unterschied bestehen, der alle Unterschiede zwischen den verschiedenen Abteilungen des Geschaffenen weit übertrifft. Das, was unverursacht ist" (ich kann mir etwas ,Unverursachtes' nicht vorstellen), "kann nicht mit dem, was verursacht ist, verglichen werden; die beiden Begriffe stehen sich schon durch ihre Namen als unvereinbare Gegensätze gegenüber."
So treibt Spencer hier, wo es gerade auf die Grundlagen ankommt, einen frevelhaften Mißbrauch mit der armen Sprache; er quält das ewige Problem aller Forschung in scholastische Worte hinein, um eine scholastische Deutung herausdenken zu können, um am Ende triumphierend auszurufen: alle Erkenntnis sei relativ, aber es gebe über der Erkenntnis etwas Nichtrelatives (wofür wir freilich kein Wort haben als das "Absolute") und das habe die Religion immer geahnt, das sei das "große Verdienst" aller Religion, auch in ihren frühesten und rohesten Formen. In dieser Dankbarkeit gegen alle sonst mangelhaften Religionen (bei deren Aufzählung er vor dem Protestantismus kläglich halt macht [S. 113]) hat der berühmte Entwicklungsphilosoph nicht einmal gegen den Teufel und seine Hölle etwas einzuwenden. "Für die große Menge . . . ist es selbst heutzutage noch nötig, dass zukünftige Pein und zukünftige Lust in lebhaften Farben ausgemalt werden" (S. 116).
Wohlgemerkt, zu dieser Abdankung entschließt er sich nicht als Politiker, als Menschenverächter wie Schopenhauer etwa, sondern weil er in aller Religion ein Schattenbild der Wahrheit erblickt, die kleine Lehre nämlich: dass ein Problem da sei.
Wissenschaft und Religion sollen das gleiche sagen, weil sie beide lehren: "unerforschlich sei das Wesen, welches sich im Universum offenbart". Wort für Wort ein theologischer Mißbrauch der Sprache, oder vielmehr der übliche Gebrauch der ewig logischen und darum ewig theologischen Sprache.
In "unerforschlich" liegen die Metaphern von Ewigkeit und Negation versteckt; denn eigentlich können wir doch nur sagen, dessen Wesen sei von uns, von mir und dir, nicht begriffen; "lich" will aber schon ungefähr sagen, ein Zauber hindere den Zutritt, das Begreifen, für alle Ewigkeit. "Universum" ist ein leeres Wort, das nur darum voll aussieht, weil wir damit gerade wieder das "Unendliche" symbolisieren, das mit einem anderen "Unendlichen", dem Raum, ausgefüllt ist; an Sonntagen denken wir dabei an die Erde und ein Dutzend Nachbarsterne, an Wochentagen an unseren Körper und die Tätigkeit, die mittelbar zu seiner Ernährung führt. Und wie ehrlich dumm ist das Wort "offenbart"! Es setzt voraus, dass das "Absolute", das sich offenbart, eine handelnde Person ist, es setzt also eigentlich den ganz fleischfarbenen Gott des Köhlerglaubens voraus.
Nun aber erst das "Wesen". In diesem Schatten vom Windhauch eines Wortes zeigt sich der Bankrott der Spencer-schen Darlegung oder besser noch: der Fluch der Sprache, der jeden trifft, der mit so elendem Werkzeug erkennen oder gar Wissenschaft und Unerkennbares versöhnen will. Und doch wollen wir das Wort "Wesen" nicht schelten. Ihm verdanken wir es, wenn wir deutlich sehen, wie Religion und Wissenschaft auf ganz verschiedenem Boden tappen, wenn sie auch beide sagen und denken: "Das Wesen der Dinge ist unerforschlich." Für die Wissenschaft ist der Satz ganz und gar nur ein Verstummen, ein Aufhören mit Fragen und Antworten. Abgesehen davon, dass sie nicht leicht "unerforschlich" sagt, dass "ignorabimus" immer etwas von Prophetenton an sich hat, versteht sie unter dem "Wesen" der Dinge, unter dem "Ding-an-sich" doch ja nur das über oder hinter ihrer Erkenntnis Liegende. "Das wahre Wesen ist unerforschlich" ist ihr eine blanke Tautologie, nämlich etwa: was ich nicht erkannt habe, das habe ich nicht erkannt. Das "Wesen" der Dinge im Sinne der Wissenschaft ist jenseits der Wissenschaft, also für sie nicht vorhanden, also ein positives Wort für eine Negation. Sie kennt nur Beziehungen der Kräfte, das "Wesen", wenn es etwas Beziehungsloses, das Absolute sein will, existiert einfach nicht für sie. Mit dem Satze, den sie mit der Religion gemeinsam haben soll, will die Wissenschaft nichts als verstummen. Er ist das Ende der Wissenschaft; will der Forscher noch weiter etwas sagen, so schwatzt er eben wie ein vulgärer Prediger.
"Das Wesen der Dinge ist unerforschlich!" vom Theologen pathetisch ausgesprochen, welch ein anderer Sinn! Wir wissen schon, dass in "unerforschlich" die Metapher der Ewigkeit steckt. Aber auch das "Wesen" suggeriert uns, wenn der Prediger es gebraucht, sofort eine Person, die hinter den Dingen steckt, eine Persönlichkeit, etwas höchst Positives, ja eigentlich etwas, das uns mehr imponieren will als die Dinge selbst, das uns am liebsten unser Leben auf Erden, und das jenseitige dazu, ordnen, befehlen, gut und schlecht machen möchte. Es ist nicht wahr, dass Religion und Wissenschaft dasselbe meinen. Selbst wenn die kühnste Wissenschaft noch die letzte Frage formuliert, wird sie achselzuckend gestehen, keine Antwort zu wissen. Wenn aber auch noch die abgeblaßteste Religion die Frage zuläßt, wird sie eine Antwort bereit haben, oder sie hieße nicht mehr Religion.
So erklärt die vorhandene Weltanschauung erst ihre Sätze; nicht umgekehrt. Wie ich ja auch lehre, dass es der Schluß ist, der die Prämissen erklärt und nicht umgekehrt. (Weil der Schluß schon im Subjektsbegriffe der Prämisse verborgen ist.) Wie der Satz seine Worte erklärt und nicht umgekehrt. Denn die Sprache ist Gedächtnis; aus der Summe des potentiellen Gedächtnisses geht Wort und Satz hervor; nicht umgekehrt.