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Teleologie

Goethe und nach ihm Virchow haben bereits den Gedanken ausgesprochen, dass das Lebendige kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit sei. Aber bei ihnen ist die Vereinigung von Atomen oder Zellen zu einem Individuum doch noch eine Art Wunder, zu dessen Erklärung allzuleicht ein Gott bemüht werden kann. Wir kommen etwas weiter, wenn wir die Einheit oder Zweckmäßigkeit eines größeren Ganzen betrachten, auf welches der Begriff des Individuums oder des Organismus scheinbar nur bildlich angewendet werden kann. Blicken wir auf den Staat oder auf die Stadt, so sehen wir ein sehr zweckmäßiges Ganzes, das dennoch von zentrifugalen Kräften beherrscht wird. Man stelle sich eine moderne Großstadt vor. Man wird nicht mit ernster Miene behaupten wollen, dass ein Oberbürgermeister den Plan zu ihrem gegenwärtigen Blühen gefaßt habe. Es gibt in der ganzen Stadt keinen Menschen, der im Dienste der Allgemeinheit Gas- und Wasserröhren, Telephondrähte, Straßenbahnschienen usw. usw. gelegt hätte. Es gibt immer nur Menschen, welche ihren Vorteil wollten. Durch Gas, durch Wasser, durch Elektrizität und Straßenbahnen sind Millionen verdient worden. Ist bei diesen großen Unternehmungen mitunter auch die Kraft des Ehrgeizes vorhanden, so gehören zu den Bequemlichkeiten der Großstadt eine Menge Dinge — von den Bedürfnisanstalten angefangen bis zu dem Institut der Stiefelwichser —, bei denen von irgend einer höheren Absicht nicht die Rede sein kann und die dennoch mehr als bildlich eine Einheit, einen Organismus zustande bringen. Nicht der Oberbürgermeister, sondern irgend ein Vorarbeiter legt die Röhren einer Bedürfnisanstalt, und dennoch gehen diese Röhren ordentlich zwischen elektrischen Kabeln und Gasröhren hindurch, fügen sich den Verhältnissen, nicht viel anders als die Kanäle von den Nieren zwischen Muskeln und Nerven und Blutgefäßen den Weg gefunden haben, den wir den richtigen nennen. So ist eine Stadt ebenfalls ein Organismus, so gut wie ein Bienenkorb oder ein Ameisenstaat, den wir täppisch einen Ameisenhaufen nennen, wie vielleicht ein darüber hin fliegender Adler unsere Großstadt einen Menschenhaufen nennt. Und es gibt bekanntlich im Tierreich solche organisierte Staaten (z. B. die Siphono-phoren), in denen die einzelnen Glieder körperlich zusammenhängen, als ob die Ameisen eines Baues durch ein Netz von Nervenfäden, als ob alle Menschen einer Stadt durch ein Netz von Nabelschnüren zusammenhingen. Wir Menschen einer Stadt oder eines Staates hängen aber doch zusammen, nicht nur durch Gas- und Wasserleitungen, durch Theater und Bedürfnisanstalten, durch öffentliche Bahnen und Telephondrähte, sondern vor allem durch die gemeinsame Sprache oder das gemeinsame Gedächtnis.

Die alte Teleologie bewunderte außer der Zweckmäßigkeit im einzelnen Organismus auch noch die Zweckmäßigkeit in der Einrichtung der Welt: es sind viele Bücher und sogar gereimte Bücher darüber geschrieben worden, wie hübsch die Pflanzen zum Fraße der Wiederkäuer, diese wieder zum Fraße der reißenden Tiere da seien und die ganze Welt für ihren Herrn, den Menschen. Diese alten Vorstellungen hatten alle die größte Mühe, sich mit der Güte Gottes auseinanderzusetzen; seitdem in der Natur keine Güte mehr angenommen wird, ist diese statistische Zweckmäßigkeit zwischen den einzelnen Tierarten ebenso leicht verständlich wie die Abhängigkeit der menschlichen Handlungen von statistischen Tatsachen.

So ist der statistische Ausgleich in der Ökonomie der Welt, das Zusammenfließen der egoistischen Bestrebungen zu dem Bilde einer städtischen Organisation ganz wohl zu begreifen als eine rein mechanische Wirkung, als eine Folge von echten Ursachen, das heißt von Vor-Ursachen; und in derselben Weise könnte man sich die scheinbare Zweckmäßigkeit der organischen Individuen aus bloßen Ursachen vorstellbar machen. Fehlt es doch auch weder da noch dort an Störungen, welche einer vorbedachten Allweisheit kein günstiges Zeugnis ausstellen würden. Wie die Röhren im Untergrunde einer Stadt einander wohl einmal unzweckmäßig kreuzen, wie sie platzen oder verrosten, wie die elektrischen Drähte einander ungünstig beeinflussen, so gibt es auch im organischen Individuum Unzweckmäßigkeiten, die man dann gewöhnlich Krankheiten nennt. Zu einer solchen Vorstellung von dem Mechanismus der organisierten Materie wollte aber auch schon der alte Materialismus führen; seine mechanische Naturerklärung, sc lobenswert die Absicht war, wurde nur darum immer wieder so unbefriedigend und albern, weil die offenbare, das heißt dem naiven Menschenverstande so selbstverständlich scheinende Zweckmäßigkeit der Organismen entweder geleugnet oder heimlich irgend einer namenlosen Gottheit zugeschrieben wurde. Hier unterscheidet sich der Darwinismus gründlich von dem älteren Materialismus. Der Zufall des älteren Materialismus war etwas ganz Anderes als der Zufall des Darwinismus. Gegen den älteren Zufallsbegriff konnte schon Cicero — oder der, den er abschrieb; das Bild geht über Lucretius auf Epikuros zurück — den Einwand erheben, dass man doch sonst nicht annehme, es sei die Ilias durch ein zufälliges Zusammenschütten von Buchstaben entstanden. In diesem Falle war der relative Begriff Zufall der Gegensatz zu der Annahme einer dichterischen Absicht, also eines sehr planvollen Zwecks. Ebenso ungereimt wäre es, eine Dynamomaschine oder auch nur eine so einfache "Maschine", wie es eine Stecknadel ist, durch Zufall entstanden zu glauben.

Der relative Zufall, durch welchen der Darwinismus die Welt der organischen Formeln entstehen läßt, ist ein Fall anderer Art. Man wird darüber nicht im Zweifel sein, wenn man an d i e Maschinen denkt, bei denen die Fachleute wirklich im Zweifel sind, ob ihr Entstehen dem Zufall oder einer Absicht zu danken sei. Es sind das gewisse Steinwerkzeuge einfachster Art, deren Schärfe ebensogut durch künstlichen wie durch natürlichen Bruch zu erklären wäre.

Um die phantastische Entstehung der Ilias (durch Zusammenschüttung von Buchstaben) des alten Zufallsbegriffs zu entkleiden, müßte man annehmen, dass ein mathematischer Kopf mit den Buchstaben des Alphabets eine unendliche Reihe von Permutationen und Variationen vornähme; ohne Frage wäre einer dieser Fälle dann die Ilias, ein anderer der Faust, wieder ein anderer die Kritik der reinen Vernunft. Einer dieser Variationsfälle wäre die Kritik der reinen Vernunft mit ihren Druckfehlern usw. usw. Ich sehe davon ab, dass der experimentierende Mathematiker wahrscheinlich die Bedeutung der Ilias, des Faust, der Kritik der reinen Vernunft gar nicht erkennen würde, weil doch in seinen unzähligen Variationsfällen sämtliche Bücher aller Bibliotheken der Erde und außerdem unendlich viele blödsinnige oder halb blödsinnige Buchstabenfolgen enthalten wären. Es wäre bei diesem phantastischen Experiment jede einzelne Buchstabenfolge mathematisch notwendig und darum berechenbar; ein Zufall könnte sie nur uneigentlich im Verhältnis zu den anderen Fällen heißen. Anstatt Zufall müßte man vielmehr von einem besonderen Fall, von einem Fall unter anderen Fällen, von einer Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten sprechen.

So ist die organische Welt nach Darwins Erklärung nicht zufällig, sondern notwendig entstanden, und man braucht nur an die unzähligen anderen möglichen Welten zu denken, die ebenso notwendig hätten entstehen können (wenn z. B. der Kohlenstoff andere Eigenschaften hätte), um auch die gegebene organische Welt als einen besonderen Fall, als einen Fall unter anderen Fällen aufzufassen. Es ist der Phantasie gar nicht schwer, sich solche andere Fälle auszudenken. Wir brauchen uns nur andere Planeten oder Planeten anderer Himmelsräume organisch belebt vorzustellen, und nichts hindert uns, dort fleischfressende bewegliche Bäume, also Raubtiere mit Blättern und mit laufenden Wurzeln uns auszumalen, wenn auch natürlich jede solche Phantasie an die bekannten Formen der Erdenwelt gebunden ist. Niemand kann behaupten, dass die organisierte Welt der Erdoberfläche die einzige zweckmäßige wäre; im Kampf ums Dasein könnte sich eben auf den anderen Planeten eine Welt entwickelt haben, in welcher bewegliche Raubtierbäume ihren Platz hätten.

Damit sind wir schon auf einer Stufe angelangt, auf welcher die Zweckmäßigkeit der Organismen (von oben gesehen) zu einem überflüssigen Worte wird. Ich glaube wenigstens, bereits von dieser Stufe die beiden entgegengesetzten Spitzen, die Notwendigkeit und die Möglichkeit, wie Punkte der ebenen Fläche zu erblicken. Eine und dieselbe Organisation erscheint als notwendig, sobald wir einiges von den begleitenden Umständen wissen, dieselbe Organisation erscheint als die eine von unzähligen Möglichkeiten, wenn wir die Umstände nicht kennen oder von ihnen absehen.

Wir brauchen nur an die Millionen Jahre zu denken, während welcher die Organismen auf der Erde sich entwickelt haben. Und alle gegenwärtigen, wirklichen, also "notwendigen" Formen erscheinen uns als ein Fall unter vielen anderen möglichen Fällen. Der vorsintflutliche Archäopteryx ebensogut wie manches abenteuerlich geformte Kleinwesen wäre für unsere Phantasie eine schwindelhafte Möglichkeit, wenn diese Bildungen nicht im Steinabdruck oder unter dem Mikroskop gesehen worden und dadurch zu Wirklichkeiten, das heißt zufälligen Notwendigkeiten geworden wären.