Rezitativ. (Musik) Es gibt eine Art des leidenschaftlichen Vortrages der Rede, die zwischen dem eigentlichen Gesang und der gemeinen Declamation das Mittel hält; sie geschieht wie der Gesang in bestimmten zu einer Tonleiter gehörigen Tönen, aber ohne genaue Beobachtung alles Metrischen und Rhythmischen des eigentlichen Gesangs. Diese so vorgetragene Rede wird ein Rezitativ genannt. Die Alten unterscheideten diese drei Gattungen des Vortrages so, dass sie dem Gesang abgesetzte Töne zuschrieben, der Declamation aneinanderhangende, das Rezitativ aber mitten zwischen beide setzten. Martianus Kapella nennt diese drei Arten genus vocis - continuum, divisum, medium und er tut hinzu, die letzte Art, nämlich das Rezitativ, sei die, die man zum Vortrag der Gedichte brauche. Diesemnach hätten die Alten, ihre Gedichte nach Art unseres Rezitatives vorgetragen; und man kann hieraus erklären, warum in den alten Zeiten das Studium der Dichtkunst von der Musik unzertrennlich gewesen. Die bloße Declamation wurde bei den Alten auch notirt, aber bloß durch Akzente, nicht durch musikalische Töne. Dieses sagt Bryennius, den Wallis herausgegeben hat, mit klaren Worten.
Von der bloßen Declamation unterscheidet sich das Rezitativ dadurch, dass es seine Töne aus einer Tonleiter der Musik nimmt und eine den Regeln der Har monie unterworfene Modulation beobachtet und also in Noten kann gesetzt und von einem die volle Harmonie anschlagenden Basse begleitet werden. Von dem eigentlichen Gesang unterscheidet es sich vornehmlich durch folgende Kennzeichen. Erstlich bindet er sich nicht so genau als der Gesang, an die Bewegung. In derselben Taktart sind ganze Takte und einzelne Zeiten nicht überall von gleicher Dauer und nicht selten wird eine Viertelnote geschwinder als eine andere verlassen; dahingegen die genaueste Einförmigkeit der Bewegung, so lange der Takt derselbe bleibt, in dem eigentlichen Gesange notwendig ist. Zweitens hat das Rezitativ keinen so genau bestimmten Rhythmus. Seine größeren und kleineren Einschnitte sind keiner anderen Regel unterworfen als der, den die Rede selbst beobachtet hat. Daher entsteht drittens auch der Unterschied, dass das Rezitativ keine eigentliche melodische Gedanken, keine wirkliche Melodie hat, wenn gleich jeder einzelne Ton eben so singend als in dem wahren Gesang vorgetragen würde. Viertens bindet sich das Rezitativ nicht an die Regelmäßigkeit der Modulation in andere Töne, die dem eigentlichen Gesang vorgeschrieben ist. Endlich unterscheidet sich das Rezitativ von dem wahren Gesang dadurch, dass nirgend, auch nicht einmal bei vollkommenen Kadenzen, ein Ton merklich länger als in der Declamation geschehen würde, ausgehalten wird. Es gibt zwar Arien und Lieder, die dieses mit dem Rezitativ gemein haben, dass ihre ganze Dauer ungefähr eben die Zeit wegnimmt, die eine gute Declamation erfordern würde; aber man wird doch etwa einzelne Silben darin antreffen, wo der Ton länger und singend ausgehalten wird. Überhaupt werden in dem Vortrag des Rezitativs die Töne zwar rein nach der Tonleiter, aber doch etwas kürzer abgestoßen als im Gesang, vorgetragen.
Das Rezitativ kommt in Oratorien, Kantaten und in der Oper vor. Es unterscheidet sich von der Arie, dem Lied und anderen zum förmlichen Gesang dienenden Texte dadurch, dass es nicht lyrisch ist. Der Vers ist frei, bald kurz, bald lang, ohne ein in der Folge sich gleichbleibendes Metrum. Dieses scheint zwar nur seinen äußerlichen Charakter zu bestimmen; aber er hat eben die besondere Art des Gesangs veranlasst.
Indessen ist freilich auch der Inhalt des Rezitatives von dem Stoff der Arien und Lieder verschieden. Zwar immer leidenschaftlich, aber nicht in dem gleichen oder stäten Fluß desselben Tones, sondern mehr abgewechselt, mehr unterbrochen und abgesetzt. Man muss sich den leidenschaftlichen Ausdruck in der Arie wie einen langsam oder schnell, sanft oder rauschend, aber gleichförmig fortfließenden Strom vorstellen, dessen Gang die Musik natürlich abbildet: das Rezitativ hingegen kann man sich wie einen Bach vorstellen, der bald stille fortfließt, bald zwischen Steinen durchrauscht, bald über Klippen herabstürzt. In eben demselben Rezitativ kommen bisweilen ruhige, bloß erzählende Stellen vor; den Augenblick darauf aber heftige und höchstpathetische Stellen. Diese Ungleichheit hat in der Arie nicht statt.
Indessen sollte der völlig gleichgültige Ton im Rezitativ gänzlich vermieden werden; weil es ungereimt ist, ganz gleichgültige Sachen in singenden Tönen vorzutragen. Ich habe mich bereits im Artikel Oper weitläufiger hierüber erkläret und dort angemerkt, dass kalte Beratschlagungen und solche Szenen, wo man ohne allen Affekt spricht, gar nicht musicalisch sollten vorgetragen werden. Es ist so gar schon widrig, wenn eine völlig kaltsinnige Rede in Versen vorgetragen wird. Und eben deswegen habe ich dort den Vorschlag getan, zu der Oper, wo durchaus alles musicalisch sein soll, eine ihr eigene und durchaus leidenschaftliche Behandlung des Stoffs zu wählen, damit das Rezitativ nirgend unschicklich werde. Denn welcher Mensch kann sich des Lachens enthalten, wenn, wie in der Opera Cato, die Aufschrift eines Briefes, (Il senato à Catone) singend und mit Harmonie begleitet, gelesen wird? Dergleichen abgeschmacktes Zeug kommt aber nur in zu viel Rezitativen vor.
Wenn ich nun in diesem Artikel dem Tonsetzer meine Gedanken über die Behandlung des Rezitatives vortragen werde, so schließe ich ausdrücklich solche, die gar nichts leidenschaftliches an sich haben, aus; denn warum sollte man dem Künstler Vorschläge tun, wie er etwas ungereimtes machen könne? Ich setze zum voraus, dass jedes Rezitativ und jede einzelne Stelle darin so beschaffen sei, dass der, welcher spricht, natürlicher Weise im Affekt spreche. Darum werde ich auch nicht nötig haben, wie Hr. Scheibe1 einen Unterschied zwischen dem bloß recitirten und declamirten Rezitativ zu machen; weil ich das erstere ganz verwerfe. Behauptet es indessen in der Oper und in der Kantate seinen Platz, so mag der Dichter sehen, wie er es verantwortet und der Tonsetzer, wie er es behandeln will. Denn hierüber Regeln zu geben, wäre nach meinen Begriffen eben so viel als einen Dichter zu unterrichten, was für eine Versart er zu wählen habe, um ein Zeitungsblatt in eine Ode zu verwandeln.
Unschuldiger! Gerechter! hauche doch Die matt' gequälte Seele von dir! ––
Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe Gespizte Keile –– Jesus reicht die Hände dar Die teueren Hände, deren Arbeit Woltun war.
Wie würde doch daraus eine Arie gemacht worden sein? Es ist wohl nicht nötig, dass ich zeige, wie ungereimt es wäre, eine solche höchstpathetische Stelle, nach Art einer Arie zu setzen. Hieraus aber steht man deutlich, wie der höchste Grad des Leidenschaftlichen sich gar oft zum Rezitativ viel besser als zur Arie schickt. Wir sehen es deutlich an mancher Ode, nach lyrischen Versarten der Alten, an die sich gewiss kein Tonsetzer wagen wird, es sei denn, dass er sie abwechselnd, bald als ein Rezitativ bald als Arioso, bald als Arie behandeln könne.
Es ist meine Absicht gar nicht hier dem Dichter zu zeigen, wie er das Rezitativ behandeln soll. Die Muster, die Ramler gegeben, sagen ihm schon mehr, wenn er Gefühl hat als ich ihm sagen könnte.
Ich will hier nur noch einen besonderen Punkt berühren. Ich kann mich nicht enthalten zu gestehen, dass die bisweilen in Rezitativen vorkommende Einschaltungen fremder Reden und Sprüche, die der Tonsetzer allemal als Arioso vorträgt, nach meiner Empfindung etwas anstößiges haben. Ich habe an einem anderen Ort2 den lyrisch erzählenden Ton des Rezitatives in der Ramlerischen Paßion als ein Muster empfohlen. Ich wußte in der Tat kein schöneres Rezitativ zu finden als gleich das, womit dieses Oratorium anfängt. Was kann pathetischer und für den Tonsetzer zum Rezitativ erwünschter sein als dieses.
–– Bester aller Menschenkinder! Du zagst? du zitterst? gleich dem Sünder Auf den sein Todesurteil fällt!
Ach seht! er sinkt, belastet mit den Missetaten Von einer ganzen Welt.
Sein Herz in Arbeit fliegt aus seiner Höhle Sein Schweiß fließt purpurrot die Schläf' herab. Er ruft: Betrübt ist meine Seele Bis in den Tod. u.s.w.
Graun, hat nach dem allgemeinen Gebrauch, der zur Regel geworden ist, die Worte: Betrübt ist meine Seele u.s.w. die der Dichter einer fremden Person in den Mund legt als ein Arioso vorgetragen und man wird schwerlich, wenn man es für sich betrachtet, etwas schöneres in dieser Art aufzuweisen haben als dieses Arioso: und dennoch ist es mir immer anstößig gewesen und bleibt es, so oft ich diese Paßion höre. Es ist mir nicht möglich mich darein zu finden, dass dieselbe recitirende Person, bald in ihrem eigenen, bald in fremden Namen singe. Und doch sehe ich auf der anderen Seite nicht, warum eben dieses Dramatische bei dem epischen Dichter mir nicht missfällt? Wenn mich also mein Gefühl hierüber nicht täuscht; so möchte ich sagen, es gehe an in eines anderen Namen und mit seinen Worten zu sprechen; aber nicht zu singen. Allein, ich getraue mir nicht mein Gefühl hierüber zur Regel anzugeben. Im wirklichen Drama, da die Worte: Betrübt u.s.w. von der Person selbst, gesungen würden, wäre alles, wie der Tonsetzer es gemacht hat, vollkommen. Oder wenn es so stünde:
Sein Schweiß fließt purpurrot, Die Schläf' herab: Betrübt ist seine Seele
Bis in den Tod.
So könnte doch, dünkt mich, das Arioso, so wie Graun es gesetzt hat, beibehalten werden. So gar die Folge dieser eingeschalteten Rede könnte hier der Dichter in seinem eigenen Namen sagen. Nur in dem einzigen Vers Nimm weg, nimm weg den bittern Kelch von meinem Munde. –– müsste seinem stehen. Doch ich will, wie gesagt, hierüber nichts entscheiden: ich sage nur, dass mein Gefühl sich an solche Stellen nie hat gewöhnen können.
So viel sei von der Poesie des Rezitatives gesagt. Rousseau hat sehr richtig angemerkt, dass nur die Sprachen, die schon an sich im gemeinen Vortrag einen guten musikalischen Akzent oder etwas singendes haben, sich zum Rezitativ schicken. Darin übertrifft freilich die Italienische meist alle anderen heutigen europäischen Sprachen. Aber auch weniger singende Sprachen können von recht guten Dichtern, wenn nur der Inhalt leidenschaftlich genug ist, so behandelt werden, dass sie genug von dem musikalischen Akzent haben: Klopstock und Ramler haben uns durch Beispiele hiervon überzeugt. Wer die englische Sprache nur aus einigen kalten gesellschaftlichen Gesprächen kennte, würde sich nicht einfallen lassen, dass man darin Verse schreiben könnte, die den besten aus der Äneis an Wohlklang gleich kommen: und doch hat Pope dergleichen gemacht. Also kommt es nur auf den Dichter an, auch in einer etwas unmusikalischen Sprache, sehr musikalisch zu schreiben.
Aber es ist Zeit, dass wir auf die Bearbeitung des Rezitatives kommen, die dem Tonsetzer eigen ist. Um aber hierüber etwas nützliches zu sagen, ist es notwendig, dass wir zuerst die Eigenschaften eines vollkommen gesetzten Rezitatives, so gut es uns möglich ist, anzeigen.
1. Das Rezitativ hat keinen gleichförmigen melodischen Rhythmus, sondern beobachtet bloß die Einschnitte und Abschnitte des Textes, ohne sich um das melodische Ebenmaß derselben zu bekümmern. In Deutschland und in Italien wird es immer in 4/4 Takt gesetzt. Im französischen Rezitativ kommen allerlei Taktarten nach einander vor, daher sie sehr schwer zu accompagniren und noch schwerer zu fassen sind.
2. Es hat keinen Hauptton, noch die regelmäßige Modulation der ordentlichen Tonstücke; noch muss es, wie diese, wieder im Hauptton schließen; sondern der Tonsetzer gibt jedem folgenden Redesatz, der einen anderen Ton erfordert, seinen Ton, er stehe mit dem vorhergehenden in Verwandschaft oder nicht; er bekümmert sich nicht darum, wie lang oder kurz dieser Ton daure, sondern richtet sich darin lediglich nach dem Dichter. Schnelle Abweichungen in andere Töne haben besonders da statt, wo ein in ruhigem oder gar fröhlichen Ton redender plötzlich durch einen, der in heftiger Leidenschaft ist, unterbrochen wird; welches in Opern oft geschieht.
3. Weil das Rezitativ nicht eigentlich gesungen, sondern nur mit musikalischen Tönen declamirt wird, so muss es keine melismatische Verzierungen haben.
4. Jede Silbe des Textes muss nur durch einen einzigen Ton ausgedrückt werden: wenigstens muss, wenn irgend noch ein anderer zu besserm Ausdruck daran geschleift wird, dieses so geschehen, dass die deutliche Aussprach der Silbe dadurch nicht leidet.
5. Alle grammatische Akzente müssen dem Silbenmaße des Dichters zufolge auf gute, die Silben ohne Akzente auf die schlechten Taktteile fallen.
6. Die Bewegung muss mit dem besten Vortrag übereinkommen; so dass die Worte, auf denen man im Lesen sich gern etwas verweilt, mit langen, die Stellen aber, über die man im Lesen wegeilt, mit geschwinden Noten besetzt werden.
7. Eben so muss das Steigen und Fallen der Stimme sich nach der zunehmenden oder abnehmenden Empfindung richten, sowohl auf einzelnen Silben als auf einer Folge von mehreren Silben.
8. Pausen sollen nirgend gesetzt werden als wo im Text wirkliche Einschnitte oder Abschnitte der Sätze vorkommen.
9. Bei dem völligen Schluss einer Tonart, auf welche eine andere ganz abstechende kommt, soll die Rezitativstimme, wo nicht schon die Periode der Rede die Kadenz fordert, auch keine machen. Das Rezitativ kann die Kadenz, wenn die Oberstimme bereits schweiget, dem Bass überlassen.
10. Die besonderen Arten der Kadenzen, wodurch Fragen, heftige Ausrufungen, streng befehlende Sätze sich auszeichnen, müssen eben nicht auf die letzten Silben des Satzes, sondern gerade auf das Hauptwort, auf dessen Sinn diese Figuren der Rede beruhen, gemacht werden.
11. Die Harmonie soll sich genau nach dem Ausdruck des Textes richten, leicht und konsonierend bei gesetztem und fröhlichen; klagend und zärtlich dissonierend bei traurigem und zärtlichen Inhalt; beunruhigend und schneidend dissonierend bei sehr finsterem, bei heftigem und stürmischen Ausdruck sein. Doch versteht es sich von selbst, dass auch die widrigsten Dissonanzen, nach den Regeln der Harmonie sich müssen verteidigen lassen. Besonders ist hier auf die Mannigfaltigkeit der harmonischen Kadenzen, wodurch man in andere Töne geht, Rücksicht zu nehmen; weil diese das meiste zum Ausdruck beitragen.
12. Auch das Piano und Forte mit ihren Schattierungen sollen nach Inhalt des Textes wohl beobachtet werden.
13. Zärtliche, besonders sanft klagende und traurige Sätze, auch sehr feierlich Pathetische, die durch einen oder mehrere Redesätze in gleichem Ton der Declamation fortgehen, müssen sowohl der Abwechslung halber als weil es sich da sonst gut schickt, Arioso gesetzt werden.
14. Als eine Schattierung zwischen dem ungleichen gemeinen recitativischen Gang und dem Arioso, kann man, wo es sich wegen des eine Zeitlang anhaltenden gleichförmigen Ganges der Declamation schickt, dem recitirenden Sänger die genau taktmäßige Bewegung vorschreiben.
15. Endlich wird an Stellen, wo die Rede voll Affekt, aber sehr abgebrochen und mit einzelnen Worten, ohne ordentliche Redesätze fortrückt, das sogenannte Accompagnement angebracht, da die Instrumente währendem Pausiren des Redenden, die Empfindung schildern.
Dieses sind, wie mich dünkt die Eigenschaften eines vollkommenen Rezitatives. Anstatt einer wortreichen und vielleicht unnützen Anleitung, wie der Tonsetzer jede dieser Eigenschaften in das Rezitativ zulegen habe, wird es wohl nützlicher sein, wenn ich gute und schlechte Beispiele anführe und einige Anmerkungen darüber beibringe. Einer meiner Freunde, der mit der Theorie der Musik ein feines Gefühl des guten Gesangs verbindet und dem ich diesen Aufsatz mitgeteilt habe, hat die Gefälligkeit gehabt, folgende Beispiele zur Erläuterung der obigen Anmerkungen aufzusuchen und noch mit einigen Anmerkungen zu begleiten. Ich habe nicht nötig die Weitläufigkeit dieses Artikels zu entschuldigen; der Mangel an guter Anweisung zum Rezitativ rechtfertigt mich hinlänglich.
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1 S. Dessen Abhandlung über das Rezitativ in der Bibliothek der schönen Wissenschaften im XI u. XII Teile.
2 S. Oratorium.