Regeln. Kunstregeln

Regeln. Kunstregeln. (Schöne Künste) Seitdem philosophische Köpfe es gewagt haben, die Werke des Geschmacks in der Absicht zu untersuchen, die Gründe zu entdecken, auf denen der starke Eindruck, den sie auf empfindsame Menschen machen, beruht, hat man durchgehends dafür gehalten, dass durch dergleichen Untersuchungen Regeln entdeckt werden, deren Kenntnis dem Künstler nützlich sein können. Darum haben nicht nur Philosophen, wie Aristoteles, sondern auch Künstler, wie Cicero, Horaz, Pope und in zeichnenden Künsten da Vinci, Rubens, Lairesse, sich ein Verdienst daraus gemacht, Regeln zu geben. Aber es scheint bald, das einige angesehene Männer, die sich unter uns mit der Kritik abgeben, dieses für ein altes Vorurteil halten. Andere, die so viel weniger Beurteilung zu haben scheinen, je lebhafter sie empfinden, fangen schon gar an, mit sehr entscheidender Verachtung von Regeln zu sprechen. Man hat sie mit Krücken verglichen, die dem Lahmen wenig helfen, dem Gesunden aber hinderlich sind. Darum scheint mir diese Materie einer näheren Beleuchtung wert zu sein.

 Wollte man bloß sagen, dass Kenntnis der Kunstregeln, ohne Genie und ohne Geschmack, weder ein gutes Werk, noch ein gesundes Urteil über Kunstwerke hervorbringen, so würde man eine alte und ziemlich durchgehends erkannte Wahrheit sagen, auf deren unnötigen Wiederholung sich Niemand etwas einbilden darf. Also scheint es wohl, dass es anders zu verstehen sei und dass die, die mit einer Art von Triumph die Regeln wegreißen und gleichsam mit Füßen treten, sie für schädlich halten. Dieses, nicht jene alte Wahrheit, wollen wir hier untersuchen.

 Vielleicht haben die, denen die Kunstregeln so anstößig sind, gar nie nachgedacht, was diese Regeln eigentlich sind. Sie mögen keinen anderen Begriff davon haben als dass es gleichgültige Vorschriften über Nebensachen seien, die ihren Ursprung bloß in der Mode oder in zufälligen Umständen haben, wodurch Künstler, deren Werke man als Muster ansieht, vermocht worden, verschiedene an sich gleichgültige Dinge, so und nicht anders zu machen. Nach ihren Begriffen mögen alle Regeln solche willkürliche Vorschriften sein, wie die – dass die Epopöe müsse in Hexameter geschrieben sein – dass das Drama fünf Aufzüge haben müsse und dergleichen. Diese mögen sie immer verwerfen und als unnütze oder schädliche Fesseln ansehen, wodurch dem Genie des Künstlers ohne alle Notwendigkeit nur Hindernisse in den Weg gelegt werden.

 Wahre Kunstregeln müssen notwendige praktische Folgen aus einer nicht willkürlichen, sondern in der Natur der Künste gegründeten Theorie sein. Theorie? Schon wieder ein anstößiges Wort. » Theorie, sagen diese Kunstrichter ist eben das, was wir nicht haben wollen, was den Geschmack und die Künste verdirbt, was die Begeisterung des Künstlers auslöscht, wie Feuer durch Wasser ausgelöscht wird; was kahle, elende, aller Kraft und alles Geschmacks völlig beraubte Werke hervorbringt.« Das kann alles wahr sein, wenn man aus Irrtum und Unwissenheit Theorie nennt, was nicht Theorie, sondern Schulfüchserei, ein willkürliches Geschwätz ist, das ein schwacher Kopf für Theorie hält und wonach er sich richtet. Es kann auch wahr sein, dass ein zur Kunst unfähiger Mensch sich einbildet, er könne, durch Hilfe der Regeln ein gutes Werk machen und dass auf diese Weise auch durch eine gute Theorie ein elendes Werk veranlasst wird. Aber davon ist hier die Frage nicht.

 Die wahre Theorie ist nichts anders als die Entwicklung dessen, wodurch ein Werk in seiner Art und nach seinem Endzweck vollkommen wird. So lange man von einer Sache nicht weiß, was sie sein soll, ist es auch unmöglich zu urteilen, ob sie vollkommen oder unvollkommen, gut oder schlecht sei. Wenn wir einem Künstler in einer gewissen Arbeit zusehen, ohne zu wissen, was er zu machen sich vorgenommen hat, so wäre es allerdings unmöglich zu beurteilen, ob er gut oder schlecht verfährt; so wie wir von einem Menschen, den wir auf einer Straße gehen sehen, un möglich sagen können, ob er auf dem rechten Weg ist, wenn wir nicht wissen, wohin er gehen will.

Kennt man aber den Zweck und die Natur eines Werks, so lässt sich auch bestimmen, was es notwendig an sich haben müsse, um das zu sein, was es sein soll. Eine solche Kenntnis der notwendigen Beschaffenheit einer Sache, wird die Theorie dieser Sache genannt. Hat nun diese die notwendige Beschaffenheit einer Sache bestimmt; so kann der, der sie machen soll, aus dieser Theorie praktische Folgen ziehen; er kann sagen: So muss mein Werk sein – also muss ich so verfahren. Diese praktischen Folgen nun sind Kunstregeln.

 Welcher vernünftige Mensch wird nun sagen, solche Regeln seien unnütz oder gar schädlich? Das wäre eben so viel als behaupten, jede Sache werde durch einen bloßen Zufall, das ist, ohne dass ein Grund dazu vorhanden ist, vollkommen und wenn man sie mit Nachdenken und nicht bloß auf Geratewohl arbeite, so würde das Werk schlecht werden.

 »Wie aber, wenn der Theoriste sich über den Zweck oder die Art eines Werkes, falsche Begriffe macht?«. Dann hat er keine wahre, sondern eine falsche Theorie gegeben und die daraus gezogenen praktischen Folgen, sind falsche, deren Befolgung den Künstler vom Zweck abführen würde. Will man sagen, dass dergleichen Regeln schädlich sind; so sagt man etwas sehr unnützes, weil es jedermann schon weiß. Will man also Theorie und Regeln verwerfen, so muss man sagen, es sei keine wahre Theorie der Kunstwerke möglich; jede Theorie sei notwendig falsch. Wenn dieses mit Grunde soll gesagt werden, so muss einer von folgenden Sätzen notwendig wahr sein: entweder dieser; dass es nicht möglich sei den Zweck und die Art eines Kunstwerks, z.B. eines Gemäldes, eines Gedichts, eines Tonstücks zu erkennen; oder dieser; dass alles was man aus der Vorstellung des Zwecks und der Art einer Sache, über ihre Beschaffenheit schließe, notwendig auf Abwege führe und dem Künstler schade. Wer also die Kunstregeln verwirft, muss sich auf die Wahrheit einer dieser beiden Sätze stützen; und diesem sagen wir: fahre wol und träume vergnügt, bis du aufwachen wirst. Währender Zeit, da unser Kunstrichter schläft und träumet, will ich hier ein Gespräch einrücken, dass dieser Sache, wie ich vermute, einiges Licht geben wird.

 »Woher kommt es, das vortrefliche Werke der Kunst älter als Theorien und Regeln sind? Beweißt dieses nicht, dass diese Speculationen wenigstens überflüssig sind?« Wir müssen uns recht verstehen. Was will man damit sagen, vortrefliche Werke der Kunst seien älter als Theorie und Regeln? »Das will sagen; Homer habe eine vortrefliche Epopöe, Sophokles vortrefliche Tragödien gemacht, ehe Aristoteles oder etwa ein anderer seichter Speculist, Regeln über diese Dichtungsarten gegeben hat.« Gut. Aber sollten Homer und Sophokles gar nicht gewußt haben, was sie eigentlich machten als jener seine Epopöen, dieser seine Trauerspiele verfertigten? Sollten sie keinen bestimmten Zweck gehabt? Sollten sie sich selbst niemal gesagt haben, dieses schickt sich und das schickt sich nicht zu meinem Werke? Sollten sie nie aus der Vorstellung dessen, was sie sich zu machen vorgesetzt, Gründe hergenommen haben, einige Sachen die ihnen einfielen, zu verwerfen, andere nachdenkend zu suchen? Sollten sie nie etwas, das ihnen in der Hize der Begeisterung eingefallen war, aus dem Grunde verworfen haben, weil sie gemerkt, es schicke sich nicht in das Werk, daran sie arbeiteten?

 »Es scheint allerdings, dass sie bei ihrer Arbeit gedacht, das eine gewählt oder gesucht, das andere verworfen haben. Aber dieses war nicht die Folge der Theorie, noch der Kenntnis der Kunstregeln, die damals noch nicht vorhanden waren.« Geschah also dieses wählen und verwerfen aus einem blinden Zufall oder waren Gründe dazu vorhanden? »Nicht der blinde Zufall, sondern Genie und Geschmack, ein richtiges Gefühl gab diesen Männern an die Hand, was sich schickte und nicht schickte und wie jedes sein müsste.« Wol. Aber wenn das, was du Genie und Geschmack nennest, nicht etwas wirkliches sein soll, wenn die Wörter Genie und Geschmack nicht leere unbedeutende Töne sind; so kann jene Erklärung nichts als dieses sagen; dass diese Männer eine so scharfe Beurteilung und ein so feines Gefühl dessen, was zum Zweck dient, gehabt haben, dass ihnen ohne deutliche Entwicklung der Theorie und der Regeln, das Dienliche eingefallen und dass sie zufolge jener Beurteilung und jenes Gefühls, das Unschickliche verworfen haben. Es wird sich wohl Niemand getrauen zu sagen, Homer, Pindar, Phidias, Demosthenes und alle große Künstler, haben ihre Werke verfertigt, wie die Biene ihre Zelle macht;1 sie waren sich ohnfehlbar wohl bewußt, was sie taten. Dieses heißt kurz und gut; sie hatten Theorie und Regeln; aber mehr durch ein richtiges Gefühl als durch deutliche Vorstellung der Sache. Und hier ist der Punkt, wo wir anfangen einerlei Meinung zu sein.

 Es gibt also eine Theorie der Kunstwerke, aus welchen die Regeln folgen, die der gute Künstler beobachtet: aber diese Theorie kann so eingewickelt in dem Kopf des guten Künstlers liegen, dass er, ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, ihr zufolge handelt und ein vortrefliches Werk an den Tag bringt. Hierüber bleibt nicht der geringste Zweifel. Also wäre nur noch die Frage zu entscheiden, ob es für die Künste gleichgültig, ob es nützlich oder schädlich sei, dass ein spekulativer Kopf die Theorie und die daraus fließenden Regeln, die in dem Genie des geborenen Künstlers, wie die künftige Pflanze in ihrem Saamenkorn, eingewickelt liegen und ihm selbst kaum merkbar sind, entfalte und in allen ihren Teilen deutlich vor Augen lege.

 »Richtig. Und nun getraue ich mir zu behaupten, dass es nicht nur unnötig, sondern in mancherlei Absicht schädlich sei, dass die in dem Kopfe des guten Künstlers liegende Theorie, mit der Folge der Regeln, deutlich entwickelt werde. Ich will mich nicht einmal darauf stützen, dass die Entwicklung der Theorie den Schaden nach sich ziehet, seichte Köpfe, denen es am Genie und Geschmack fehlt, in die Torheit zu verleiten, Kunstwerke zu unternehmen, weil sie sich einbilden, die Theorie sei hinlänglich ihnen den Weg zu zeigen, den sie gehen sollen. Es würde mir nicht an einem Überfluss von Beispielen fehlen, die diesen Missbrauch der Theorien unwidersprechlich beweisen. Aber dieses will ich übergehen, weil ich, ohne diesen Umweg zu nehmen, meine Sache geradezu beweisen kann.«

  »Aber ich will, mit Erlaubnis, um deutlicher zu sein, ein besonderes Beispiel wählen, an dem ich meinen Satz doch allgemein beweisen werde. Es ist wohl unläugbar dass unser Gehen, eine Kunst sei. Wer daran zweifeln wollte, dürfte nur darauf acht haben, was für lange Übung bei Kindern nötig ist, ehe sie sicher und ordentlich, wie erwachsene Menschen gehen können. Ist aber das Gehen eine Kunst, so wird sie auch ihre Theorie und ihre Regeln haben. Es geschiehet nicht von ungefähr, dass die Füße so und nicht anders gesetzt werden, dass jeder Mensch seinen Schritt hat und dass beim Gehen ein Schritt so weit oder lang ist als ein andrer. Was würde es nun, um des Himmels willen, für ein unsinniges Unternehmen sein, wenn man die Theorie dieser Kunst entwickeln, alle Regeln desselben erforschen und dann die Kinder anhalten wollte, nach diesen Regeln gehen zu lernen?«

 »Erstlich ist offenbar, dass dieses völlig unnütz wäre; weil jedes gesunde Kind, von Anfang der Welt an, bis auf diesen Tag, ohne diese Theorie gehen gelernt hat und weil ein lahmes Kind, durch sie nimmermehr wird gehen lernen. Aber sie wäre nicht bloß unnütz, sondern schädlich. Denn ohne Zweifel würden sich hier und da pedantische Ammen finden, (denn die Pedanterei ist nicht bloß den Gelehrten eigen) die ihr Kind, nach diesen Regeln würde unterrichten. Wehe denn dem armen Kind; es wird entweder gar nicht oder sehr viel später als andere gehen lernen. Denn wenn wir auch setzen, es sei schon klug genug alle Regeln des Gehens zu fassen und zu behalten, was für ein jämmerliches Gehen wird das nicht sein, wenn der kleine Fuß keine Bewegung machen und keine Stel lung annehmen soll als bis das arme Kind die Regel davon hergesagt oder doch der Länge nach, hergedacht hat?«

 »Dass dieses gerade der Fall der Kunsttheorien sei, darf ich dir nicht lang beweisen. Es liegt am Tage, dass Künstler von gesundem Genie, ohne entwickelte Theorie vortrefliche Werke verfertigt haben und noch jetzt verfertigen, gerade so, wie die Kinder die Kunst des Gehens gelernt haben und noch lernen. Es liegt ferner am Tage, wie schnell und glücklich der in Begeisterung gesetzte Künstler, das was zu seinem Werk nötig ist, erfindet und dem Werk einverleibt und dass es ihm zu unendlicher Beschwerde gereichen würde, nicht eher fortzufahren, bis er die Regeln für jeden Fall in Überlegung genommen hätte.«

»Und so hoffe ich erwiesen zu haben, dass entwickelte Theorien und Regeln dem Künstler nicht bloß unnütz, sondern schädlich sind.«

 So scheint es: doch müssen wir sehen, ob nicht irgend in deinem Beispiele vom Gehen, etwas sei, wodurch die Anwendung auf unsere Frage unschicklich und der daraus gezogene Schluss unrichtig werde.

 Ich will ohne Sophisterei und ohne das, was ich behaupte, zu erschleichen, die Kunst des Gehens auch als einen ähnlichen Fall vor mich nehmen.

Wären die schönen Künste eben so genau an die natürlichen und notwendigsten Bedürfnisse des Menschen gebunden als die Kunst des Gehens, so würde die Natur ohne Zweifel jedem Menschen das Genie zu diesen Künsten eben so mildtätig gegeben haben, wie die zum Gehen nötige Fähigkeiten. Gehörte es so zu den Bedürfnissen der Menschen, dass jeder ein Dichter wäre, wie es dazu gehört, dass jeder gehen könne, so wären wir alle gute Dichter, die wenigen ausgenommen, die durch Verwahrlosung oder andere Zufälle an Genie lahm worden, wie einige Menschen an den Schenkeln gelähmt sind. Nun ist offenbar, dass nicht alle Menschen, deren Genie sonst ganz gesund ist, Dichter oder Maler oder Tonkünstler sind. Also möchte es mit dem zum Grunde der Untersuchung angenommenen ähnlichen Fall, nicht so ganz seine Richtigkeit haben.

 Vielleicht hätte sich die Kunst der Sprache besser auf unseren Fall anwenden lassen. Das Sprechen ist ohne Zweifel auch eine Kunst. Ein Teil derselben, sich verständlich auszudrucken, ist ein so natürliches Bedürfnis, dass alle Menschen, die nicht verunglückt sind, diese Kunst, wie das Gehen, ohne entwickelte Theorie und Regeln, lernen. Es fällt auch der gelehrtesten Amme nicht ein, ihrem Säugling die Grammatik zu lehren, um ihm dadurch die Sprache beizubringen. Und doch hat man die Theorie der Kunst entwickelt und die Regeln auseinandergesetzt; und noch ist es, so viel ich weiß, keinem verständigen Menschen eingefallen zu sagen, die Grammatik sei überhaupt unnütz oder schädlich. Nur ihren Missbrauch, da man Kinder will durch die Grammatik sprechen lehren, wird von allen verständigen Menschen getadelt.

  Nämlich das zierliche, reine, angenehme Sprechen, gehört nicht unter die ersten Bedürfnisse des Menschen. Ohne Theorie und Regeln würde es nicht jedermann lernen, wie das Sprechen überhaupt. Darum fand man für gut, diese Theorie zu entwickeln. Niemand wird wohl sagen, dass der, dem die Sprache durch den täglichen Gebrauch geläufig worden und der nun gerne nicht bloß notdürftig sich auszudrucken, sondern mit einer gewissen Zierlichkeit zu reden wünschet, sich vor der Grammatik hüten soll. Ich will aber diese Vergleichung nicht weiter treiben, sondern nur bei der Kunst des Gehens bleiben und sie richtiger auf unseren Fall anwenden. Wir sind beide darüber einig, dass es Tollheit wäre, die Theorie des gemeinen Gehens, zur Beförderung dieser so allgemeinen Kunst, zu entwickeln. Aber da unsere Untersuchung sich nicht auf Künste bezieht, die eine Art von Instinkt alle Menschen lehrt, sondern auf schöne Künste, die ein nur wenigen Menschen verliehenes Genie und einen nicht jedem angeborenen feinen Geschmack erfordern; so dünkt mich, wäre die Kunst des Tanzens besser zur Vergleichung gewählt worden. Menschen von gewissem Genie, haben auch ohne Theorie und Regeln, Tänze erfunden. Mit diesen behilft sich auch jedes noch rohe Volk und bekümmert sich um keine Theorie: Empfindung und Geschmack sind hinlänglich. Aber auch da haben die, die etwas scharfsinniger sind als andere, hier und da, aus der in ihrem Kopf eingewickelt liegenden Theorie einzelne Regeln gezogen, die sie, so bald sich eine Gesellschaft bloßer Naturalistentänzer zusammen gefunden hat, ihnen sagen und die von diesen auch willig angenommen werden.

  Dieses hat den ersten Grundstein zur Theorie der Tanzkunst gelegt. Man hat angefangen über den Charakter der von Natur eingegebenen Tänze nachzudenken; man hat entdeckt, dass sie fröhlich oder zärtlich oder galant seien u. d. gl.; man hat ferner allmählich bemerkt, dass gewisse Wendungen, gewisse Schritte, Sprünge, Gebärden, besser, andere weniger gut, mit dem besonderen Charakter gewisser Tänze übereinkommen, andere aber ihm entgegen sind. Man hat bei weiterer Untersuchung auch gemerkt, dass bei Übereinstimmung dieser Schritte, Wendungen und Gebärden, mit dem Hauptcharakter, diejenigen vorzüglich seien, die zugleich Leichtigkeit, Zierlichkeit und eine gewisse Anmut haben. Man hat genauer Achtung gegeben, worin dieses besteht und es anderen so gut als es anginge gesagt und vorgemacht. So ist allmählich die Theorie des Tanzens entwickelt und so sind die Regeln entdeckt worden.

 Wenn nun ein Theoriste kommt und dem Tänzer sagt, dass man die verschiedenen Charaktere der Tänze wohl unterscheiden müsse; dass ein Tanz ernsthaft und mit Würde begleitet; ein anderer fröhlich und zur Freude ermunternd, ein dritter verliebt und zärtlich sei u.s.w. Dass jeder Charakter seinem Wesen nach eine für ihn schickliche Geschwindigkeit habe, dass z.B. die fröhlichen Tänze notwendig geschwindere Bewegung erfordern als die ernsthaften; dass jede Bewegung und jede Gebärde, außer ihrem wesentlichen Ausdruck auch Leichtigkeit und Zierlichkeit haben müsse und was dergleichen Anmerkungen mehr sind. Wenn nun alles dieses, so bestimmt und so ausführlich als die Natur der Sache es erlaubt, gesagt und in ein ordentliches und faßliches System gebracht wird, so hat man glaube ich, eine Theorie des Tanzens.

»Allerdings.« Und diese Theorie und Regeln, sind dächte ich, dem der einmal ein Tänzer sein soll, weder unnütz noch schädlich.

 »Das kann vom Tanzen so sein. Aber in Ansehung der Dichtkunst, der Malerei und anderer Künste, möchte es sich anders verhalten.«

Mein Freund, ich habe jetzt nicht Zeit dir zu zeigen, dass der Fall auf alle schönen Künste gleich passt. Wenn du nicht Lust hast, dich selbst davon zu überzeugen, welches ohne großes Kopfbrechen geschehen könnte, so glaube was du willst und hiemit lebe wohl.

 Es lässt sich aus diesem Gespräch leicht abnehmen, dass es nicht die Absicht des Verfassers desselben gewesen, den ganzen Kram der Regeln, die man in allen Rhetoriken, Poetiken und anderen Büchern über die Kunst antrifft, für notwendig zu halten. Unüberlegte Kunstrichter haben die Theorie mit einer Menge entweder bloß willkürlicher oder doch solcher Regeln, die nur auf das Zufällige der Form und der Materie gehen, überladen; sie haben, ohne zu unterscheiden, was in einem Kunstwerk wesentlich und was zufällig ist, alles, was ihnen gefallen hat, für notwendig gehalten und eine Regel daraus gezogen. Wo viel Wege sind, zum Zweck zu gelangen, haben sie durch eine Regel den Künstler zwingen wollen, gerade den einen, der ihnen etwas gefallen hat, zu gehen. Selbst der große Aristoteles ist nicht frei von solchen Regeln.

  Wahre Regeln, die dem Künstler dienen, lehren ihn bestimmt beurteilen, was zur Vollkommenheit seines Werks notwendig und was bloß nützlich ist. Man muss aber dabei den besten Regeln nicht mehr Kraft zuschreiben als sie ihrer Natur nach haben. Sie geben dem Genie bloß die Lenkung, nicht die Kraft zu arbeiten; sie sind wie die auf den Landstraßen aufgerichte ten Wegsäulen, nur dem nützlich, der noch Kraft hat zu gehen, dem Müden und Lahmen aber nicht die geringste Stärkung geben.

 Was der Künstler in der Hize der Begeisterung, ohne Bewußtsein irgend einer Regel erfindet, wählet, anordnet und bearbeitet, das muss er danach durch Hilfe der Regeln beurteilen und allenfalls verbessern. Einige Regeln betreffen das Mechanische der Kunst, andere den Geist und den Geschmack. Werden jene beobachtet; so wird das Werk frei von Fehlern2.

Beobachtet der Künstler diese, so wird es gut.

 

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1 Ein so ganz mechanisches Verfahren soll Sophokles dem Äschylus vorgeworfen haben. Daraus könnte man schließen, dass wenigstens Sophokles immer gewußt habe, warum er jedes so und nicht anders gemacht.

2 S. Richtigkeit.

 


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