Reiz

Reiz. (Schöne Künste) Wir nehmen dieses Wort in der Bedeutung, für welche verschiedene unserer neuesten Kunstrichter das Wort Grazie brauchen. So viel ich weiß, hat Winkelmann es zuerst gebraucht,, um eine besondere Art oder vielleicht nur eine gewisse Eigenschaft des Schönen in sichtbaren Formen auszudrücken. Seitdem ist viel von der Grazie, nicht bloß als einer Eigenschaft der sichtbaren Formen, sondern auch der Gedanken, der Phantasien, der Empfindungen und der Handlungen gesprochen worden.

 Wenn nun gleich die ersten, die sich dieses Ausdrucks bedient haben, etwas in ihren Empfindungen wirklich vorhandenes und mehr oder weniger bestimmtes, dadurch mögen angedeutet haben; so ist doch zu besorgen, dass bei unserer immer höher steigenden Scholastik des Gefühles, das Wort Grazie das Schikcksal manches metaphysischen Schulworts erfahren könnte, dessen Bedeutung Niemand erraten kann, das aber dessen ungeachtet, von denen fleißig gebraucht wird, die sich das Ansehen geben als könnten sie Dinge erklären, die kein anderer Sterblicher erklären kann.

 Ohne mich in die Tiefen des feinen Gefühles der in allen Geheimnissen der Kunst eingeweiheten Virtuosen und Kenner einzulassen, will ich versuchen, auf eine verständliche und ungekünstelte Weise zu sagen, was für Eindrücke ich von verschiedenen Arten ästhetischer Gegenstände, wirklich empfinde, die dem zuzuschreiben sein möchten, was die Kunstrichter die Grazie nennen und was ich unter den Namen Reiz verstehe.

 Vorher aber will ich anmerken, dass die Grazie von denen, die sie zuerst als eine absönderliche Eigenschaft der Schönheit bezeichnet haben, bloß der weiblichen Schönheit zugeeignet worden. Schon zu Homers Zeiten, waren die Grazien als beständige Begleiterinnen und Aufwärterinnen der Venus bekannt,1 und berufen, diese Göttin der Schönheit und Liebe mit besonderen Reizungen zu schmücken. Vermutlich erst lange nachher wurde das Gebiet ihrer Herrschaft allmählich weiter ausgedehnt, bis endlich nicht bloß das schöne Geschlecht, sondern auch Dichter, Philosophen, Staatsmänner, kurz alles, was durch irgend eine besondere Art zu sprechen und zu handeln sich angenehm zu machen wünschte, den Grazien opferte, um ihren Beistand zu erhalten.2

 Dieses kläret uns einigermaßen das ganze Geheimnis auf. Ein gewisser Grad des Gefälligen und Anmutigen, das die Zuneigung aller Herzen gewinnt, das uns für Personen, Handlungen, Reden und Betragen völlig einnimmt, muss als eine Wirkung der Grazien angesehen werden. Sehen wir also die Grazie oder um Deutsch zu sprechen, den Reiz als eine ge wissen Gegenständen inhaftende Eigenschaft an, so wird uns durch die vorhergehenden Bemerkungen, die Wirkung dieser Eigenschaft bekannt und kann uns das Nachforschen über ihre Natur und Beschaffenheit erleichtern.

 Nicht jede Schönheit, nicht jede das Gefühl erweckende Vollkommenheit, wirkt die innige Zuneigung und Gewogenheit, die man in dem engern Sinn Liebe nennt und die allemal eine gewisse Zärtlichkeit in sich schließt. Man sieht schöne Personen, deren Gestalt großes Wohlgefallen ohne merkliche Zuneigung erweckt. Man fühlt die besten Verhältnisse und das schönste Ebenmaß der Form und die untadelhafte Gestalt; das Auge verweilt mit Vergnügen und Wohlgefallen darauf: aber alle Wirkung dieser Schönheit scheint bloß in einer Belustigung der Phantasie oder der Sinne zu bestehen, sie erweckt nichts von dem süßen mit Verlangen verbundenen, tief in dem Herzen sitzenden Gefühl. Es fehlt dieser Schönheit an Reiz, sie ist eine Venus, ehe die Grazien in ihren Dienst gekommen.

 Bisweilen sieht man auch Schönheit mit Hoheit verbunden, die Hochachtung und Ehrfurcht erweckt; eine Schönheit wie Juno und wie Minerva sie besaßen. Dort kündigt sie die Königin der Götter, hier die Göttin der Weißheit, des Verstandes und des Verdienstes an. Ihr Anblick erweckt Bewunderung und Ver ehrung, zu ernsthafte Regungen als dass das Herz sich dabei irgend einen zärtlichen Wunsch erlaubte. Hier ist aller Reiz in Größe und Hoheit übergegangen. Die Grazien sind nicht vornehm genug, diese Hoheit zu begleiten. Wenn Juno reizend sein will, muss sie etwas von ihrem Ernst ablegen und den Gürtel der Venus auf eine Zeit borgen.

 Nicht anders verhält es sich mit jeder anderen Art des sinnlich Vollkommenen. Unter den verschiedenen Menschen, mit denen wir umgehen, finden sich solche, deren Betragen in jeder Absicht großes Wohlgefallen erweckt; man findet sie in allem, was sie tun und in der Art, wie sie es tun, untadelhaft und unverbesserlich und schöpfet deswegen Vergnügen, aus ihrem Umgange. Aber noch stellet sich dabei die zärtliche Empfindung, die tief im Herzen Wunsch und innige Zuneigung hervorbringt, nicht ein. Auf der anderen Seite sehen wir hochachtungswürdige Menschen, an denen alles groß, aber mit Ernst und Hoheit verbunden ist. Der Umgang weder mit der einen, noch mit der anderen Art solcher Menschen, hat das, was man eigentlich das Reizende des Umganges nennt. Dieses stellet sich nur da ein, wo wir bei dem ganzen Betragen vorzügliche Annehmlichkeit empfinden; die im eigentlichsten Sinn einnehmend ist.

So gehören zu einer dieser drei Gattungen, alle gute Schriftsteller, alle gute Künstler mit ihren Wer ken; und jedes gute Werk der Kunst hat entweder bloß gemeine untadelhafte Schönheit oder diese mit Reiz verbunden oder endlich Hoheit und Größe. Tiefere Geheimnisse habe ich in dem, was man von der Wirkung der Grazie sagt, nicht entdecken können. Es kann wohl sein, dass einige nur einen sehr hohen Grad des Reizes, der Grazie zuschreiben. Aber Plato scheint auch bloß ein gefälliges und angenehmes Wesen, wobei man eben nicht in Entzückung gerät, für eine Wückung der Grazien gehalten zu haben. Denn da er dem Xenokrates, der in seiner Art etwas Strenges und Steifes hatte, den Rat gibt, er soll den Grazien Opfer bringen; so verstand er es vermutlich nicht so, dass er seinen Schüler dadurch in einem Aristippus oder in seinen Manieren in einem Alcibiades verwandelt zu sehen wünschte. Diese Anmerkungen zielen darauf, dass man erkenne, alle Arten ästhetischer Gegenstände seien des Reizes fähig und äußern ihn durch einen merklichen Grad der Annehmlichkeit, wodurch wir in solche Gegenstände gleichsam verliebt werden, so dass es eine Art feiner Wollust des Geistes ist, die Eindrücke derselben zu genießen, bei der wir aber nicht so, wie von der Größe und Hoheit in Bewunderung oder Ehrfurcht gesetzt werden. Wir schreiben den Liedern eines Anakreons und den Gesprächen eines Xenophons Grazie; aber den Oden des Pindars und den Reden des Demosthenes, Hoheit zu.

 Es wäre ein zu kühnes und vielleicht auch ohnedem in Absicht auf den Nutzen nicht sehr erhebliches Unternehmen, wenn man die nähere Beschaffenheit des Reizenden, in jeder Gattung der ästhetischen Gegenstände, genau zu zergliedern suchte. Der Liebhaber, der nur etwas von feinem Gefühl hat, empfindet es leicht; und wenn man den Künstler, dessen Genie weder bloß auf das Große und Strenge bestimmt, noch bloß auf schlechte Richtigkeit und Wahrheit geht, überhaupt vermahnet, er soll bei allen seinen Werken wohl Acht haben, ob sie in ihrer Art, Annehmlichkeit und Lieblichkeit vertragen, und, wo sie statt haben, besondere Rücksicht darauf nehmen, so hat man ihm ungefähr alles gesagt, was sich hierüber verständlich und bestimmt sagen lässt.

 Denn dieses, was dem Künstler in dieser Absicht am nötigsten ist, dass er alle Gegenstände seiner Kunst, sowohl in der Natur als in den Werken anderer Künstler, mit genauer Aufmerksamkeit betrachten, die eigentliche Art und den Charakter eines jeden richtig fassen soll, versteht sich von selbst. Durch eine solche Betrachtung aber wird er, wenn er das Gefühl dazu hat, das bloß Schöne, das Reizende und das Große, von selbst entdecken und gehörig von einander unterscheiden. Dieses Gefühl wird ihm ferner von der näheren Beschaffenheit des Reizenden mehr anzeigen als die mühesamste Entwicklung desselben, ihn leh ren würde. Wer wird es unternehmen, einem Menschen von etwas feinem Gefühl für die Schönheiten des Gesangs, ausführlich zu zeigen, worin das Reizende in den süßen Gesängen eines Grauns bestehe? Oder wer wird sich unterstehen die Lieblichkeit der Lieder eines Anakreon oder Petrarcha oder Metastasio zu zergliedern? Dem Maler das Kolorit eines Titians oder die Zeichnung eines Raphaels und Guido, dem die Grazien vorzüglich hold gewesen, ausführlich zu beschreiben? Besser kommt man zum Zweck, wenn man sagt: Sing und horche; lies und empfinde; sieh und fühle – und denn sing und lies und siehe wieder und mache dir ein tägliches Geschäfte daraus: dadurch wirst du dich mit den Grazien deiner Kunst bekannt machen.

 

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1 Odyß. VIII B. vs. 364 u. dessen Hymnus auf die Venus.

2 S. Wielands Grazien V. Buch.

 


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