Rührende Rede. (Beredsamkeit) Eine der drei Hauptgattungen der Rede in Absicht auf den Inhalt1. Ihr Zweck geht auf Erweckung der Leidenschaften, die nach der Absicht des Redners entweder Entschließungen oder Unternehmungen befördern oder hintertreiben sollen. Die Leidenschaften sind die eigentlichen Triebfedern, wodurch diejenigen Handlungen vollbracht werden, dazu starke Anstrengung der Kräfte nötig ist; nämlich wo die Handlung an sich sehr mühesam und voll Beschwernis, wo sie mit Gefahr begleitet ist oder wo ihr sonst in dem Gemüte des handelnden Menschen starke Hindernisse im Wege stehen. Nicht nur die meisten und wichtigsten der öffentlichen Staatsunternehmungen sind in diesem Falle, sondern gar oft auch Privathandlungen von einiger Wichtigkeit.
Wenn also die Menschen zwar einsehen, was sie tun sollten, aber nicht stark genug sind ihren Einsichten gemäß zu handeln; so müssen die Leidenschaften zu Hilfe gerufen werden, um ihnen die Kräfte zu geben. Bisweilen aber sind diese Triebfedern auch schon nötig, um nur den Entschluß zu wichtigen Handlungen zu fassen. Denn gar oft sind die Einsichten der Vernunft dazu nicht hinlänglich, weil sie nicht mit Gefühl begleitet sind.
Die schönen Künste sind die eigentlichen Mittel Leidenschaften zu erwecken, wo sie nicht aus der Lage, darin der Mensch sich befindet, schon von selbst entstehen. Unter den schönen Künsten aber braucht die Beredsamkeit die wenigsten Veranstaltungen dazu. Überall, wo es nötig ist, kann der Redner auftreten, weil er das Instrument, wodurch er wirken soll, schon mit sich führt. Also wird es ihm am leichtesten durch Erweckung heilsamer Leidenschaften den Menschen nützlich zu werden. Dieses veranlasst die leidenschaftliche Rede, deren Beschaffenheit wir nun näher zu betrachten haben.
Es kommt also bei dieser Rede allemal darauf an, dass lebhafte Empfindungen für oder gegen eine Sache in den Herzen der Zuhörer erweckt werden.
Dieses kann, wie schon anderswo2 gezeigt wurde, auf zweierlei Weise geschehen. Entweder schildert der Redner den Gegenstand, aus dessen Betrachtung die Leidenschaft, die er zu erwecken sucht, natürlicher Weise entsteht; oder er selbst äußert die Leidenschaft auf eine lebhafte Weise und entzündet dadurch die Herzen seiner Zuhörer. Wer uns in Furcht setzen will, muss uns entweder von einer nahen Gefahr so lebhaft überzeugen, dass wir sie nicht nur erkennen, sondern auch fühlen; weil das Gefühl der Gefahr die Furcht gewiss hervorbringt oder er selbst muss die Furcht so lebhaft äußern, dass auch wir davon angesteket werden. Auf die erste Weise hat Demosthenes seine Mit bürger mit Furcht für den Philippus erfüllet, indem er auf das deutlichste und lebhafteste, die weit aussehenden Unternehmungen dieses gefährlichen Nachbars, geschildert und die Gefahr, die der Freiheit den Untergang drohte, auf eine rührende Weise vorgestellt hat. Nach der anderen Art verfahren durchgehends die so genannten ascetischen geistlichen Redner, die, anstatt erst den Verstand zu überzeugen, geradezu das Herz angreifen und die Leidenschaft in den Gemütern ihrer Zuhörer dadurch erwecken, dass sie das, was sie selbst davon fühlen, auf eine sehr nachdrückliche und ansteckende Weise äußern.
In dem ersteren Fall hat die Rede zwar die Form der lehrenden Rede, weil sie unmittelbar auf den Verstand arbeitet. Sie ist aber nicht bloß durch ihren Zweck, sondern auch durch die Art der Behandlung und des Tones von der eigentlich lehrenden Rede unterschieden. Bei der lehrenden Rede ist der Zweck völlig erreicht, wenn der Zuhörer am Ende wohl unterrichtet oder völlig überzeugt ist. Hier aber ist der genaueste Unterricht und die gründlichste Überzeugung noch nicht hinlänglich; beides muss mit Rührung verbunden werden, damit die fernere Absicht, nämlich die Erweckung der Leidenschaft, erreicht werde.
Der rührende Redner, der durch den Verstand ans Herz zu kommen sucht, hat mit dem lehrenden das gemein, dass er entweder einen Begriff entwickelt oder ein Urteil fällt oder einen Schluss bestätigt3, auch muss er, wie dieser, dabei nicht nach der strengen Methode des forschenden Philosophen, sondern nach einer sinnlichern Vernunftlehre verfahren. Er kann sich alles zueignen, was in dem angeführten Ort, hierüber ist gesagt worden. Über dieses aber hat er noch etwas nötig, das der bloß lehrende Redner nicht braucht, die unmittelbare Anwendung seiner Vorstellungen auf die Leidenschaft, die der Hauptzweck seiner Red ist. Er muss seinem lehrenden Vortrag die besondere Kraft zu geben wissen, die diese Leidenschaft hervorbringt; da der bloß lehrende Redner schon zufrieden ist, wenn seine Lehre überhaupt wirksam und sinnlich ist. Dadurch wird die Wahl seiner Gedanken, der Ausdruck derselben, der Ton und der Vortrag viel genauer bestimmt.
Um den Unterschied der drei Arten des lehrenden Vortrages deutlicher zu machen, stelle man sich diesen besonderen dreifachen Fall vor, dass der Philosoph, der lehrende und der rührende Redner einerlei Inhalt gewählt haben als z.B. die Ungerechtigkeit einer gewissen Handlung darzutun. Hier sucht der Philosoph auf das deutlichste zu zeigen, dass sie das Recht anderer Menschen verletzt und begnügt sich seinen Zuhörer so weit gebracht haben, dass er die Ungerechtigkeit der Sache eingestehen muss und dass ihm kein Zweifel mehr dabei übrig ist. Ob übrigens diese Wahrheit in dem Gemüt ein Gefühl zurücklasse oder nicht, darum bekümmert sich der Philosoph, insofern er sich genau in seinen Schranken hält, nicht. Die Absicht des Moralisten, der eigentlich der lehrende Redner ist, erstreckt sich weiter; denn er sucht dieser Wahrheit eine wirksame Kraft zu geben und sich seinen Zuhörer so einzuprägen, dass ein dauernder Abscheu gegen eine Handlung dieser Art, in ihm erweckt werde. Der rührende Redner hat eine noch näher bestimmte Absicht; er will Scham oder Zorn erwecken; die Leidenschaft soll aus dem Anschauen der ungerechten Handlung entstehen und stark genug sein, wenn es auch viel Anstrengung erforderte, das Unrecht wieder gut zu machen oder sich demselben kräftig zu wiedersetzen. Da müssen also die Vorstellungen weit lebhafter sein als in dem vorhergehenden Falle.
Hiedurch ist überhaupt die Gattung des rührenden Unterrichts bestimmt. Die Mittel, welche der Redner dazu anwendet, können hier nicht ausführlich beschrieben, sondern nur überhaupt angezeigt werden. Das erste und vornehmste ist, dass er selbst seinen Gegenstand von der Seite oder in dem Lichte gefasst habe, wodurch die Leidenschaft in ihm lebhaft erweckt worden. Wenn er selbst von seinem Gegenstand so gerührt ist, wie er seine Zuhörer davon gerührt zu sehen wünschet, so wird es ihm leicht, ihn in der Nähe, mit dem Leben und in dem Lichte zu schildern, die zu der starken Rührung die er zur Absicht hat, notwendig ist. Man sieht täglich, wie Freude, Furcht, Verlangen und andere Leidenschaften, selbst in dem Munde sonst unberedter Menschen alle Beschreibungen vergrößeren; wie sie den Erzählungen ein Leben und den Urteilen das Gepräg der Unfehlbarkeit geben. Also ist der beste Rat den man dem Redner geben kann, dieser, dass er seine Materie so lang überdenke, sie so von allen Seiten und in allen Verbindungen mit sittlichen oder politischen Angelegenheiten betrachte, bis er selbst den Gesichtspunkt gefunden hat, der ihn in die Leidenschaft setzt, die er erwecken will. Diese wird denn seine Suada, die ihm Gedanken, Ausdruck und Ton, die er sonst vergeblich gesucht hätte, eingibt.
Hiernächst ist notwendig, dass er sich die Lage der Sachen nach den besonderen Umständen in Rücksicht auf seine Zuhörer, auf deren Charakter und Interesse, so genau bestimmt als ihm nur möglich ist, vorstelle. Denn dadurch erkennt er, was für eine besondere Wahl er unter den mancherlei Vorstellungen, die sein Inhalt ihm darbietet, für jede Gattung der Zuhörer, anzustellen habe.
Dass dem rührenden Redner zu der Wahl der Gedanken eine genaue Kenntnis des Menschen, aller Leidenschaften und der Tiefen des Herzens überhaupt nötig sei, ist zu offenbar als dass es einer besonderen Ausführung bedürfe.
Überhaupt erhellt hier, dass die rührende Rede, wenn die Leidenschaft durch Entwicklung des Gegenstandes soll erregt werden, einen Mann von großen und seltenen Gaben erfodere. Verstand und Herz müssen bei ihm von vorzüglicher Größe, dabei aber mit ausgebreiteter Kenntnis der Menschen und Erfahrung in Geschäften verbunden sein. Man trifft deswegen viel angenehme, einschmeichelnde, gefällige Redner an, ehe man auf einen hinreißenden kommt. Die Wärme des Herzens muss bei einem solchen Redner nicht von dem Feuer der bloßen Einbildungskraft, sondern vornehmlich von der Stärke der Vernunft herkommen. Wahrheit und Recht (das im Grund auch nichts als praktische Wahrheit ist) müssen eine so große Kraft auf ihn haben, dass er schon dadurch allein in leidenschaftliche Empfindung gesetzt wird. Der kalte Philosoph, der alles auf das genaueste sieht und der subtile Dialektiker, der die feinsten Schattierungen der Begriffe bemerkt als ob er durch ein Vergrößerungsglaß sähe, schicken sich am wenigsten hierzu: man lernt von ihnen bloß genau sehen, nicht empfinden. Der rührende Redner sieht zwar auch richtig, mit einem Blick entdeckt er die wahre Beschaffenheit einer Sache ohne Zergliedern und ohne subtiles Forschen und die Wahrheit gibt seiner Empfindung selbst einen Stoß.
Weniger gehört zu der rührenden Rede, wo der Redner die Leidenschaft selbst, ohne Entwicklung des Gegenstandes, der sie hervorbringt, äußert. Wenn wir an einem Menschen alle Zeichen eines tiefen Schmerzens sehen, so nehmen wir Teil daran, wenn uns die Ursache seines Leidens auch unbekannt ist. Ist nun ein Redner von der Leidenschaft, die er in anderen erwecken will, ganz durchdrungen und hat er eine lebhafte Einbildungskraft den Gegenstand derselben, ohne ihn genau zu schildern, auf verschiedene Seiten zu wenden, wodurch die Leidenschaft immer neue Nahrung bekommt; so braucht er eben nicht sehr methodisch zu verfahren, um das Feuer, das in ihm brennt, auch in anderen anzuzünden. Man vergleiche, um diesen Unterschied zu fühlen die philippischen und catilinarischen Reden des Cicero, die meistens bloß Äußerungen der in dem Redner aufwallenden Leidenschaften sind, mit der, die er gegen die Austeilung der Äker vor dem Volke gehalten, wo er rührend unterrichtet. Es gehört unendlich mehr dazu eine Rede von dieser Art zu verfertigen als zu einer der ersten Art.
Man hat Beispiele genug dass hizige Köpfe, ohne Verstand und Einsicht, politische und religiöse Schwärmer, durch leidenschaftliche Reden, darin man Verstand oder Gründlichkeit vergeblich sucht, unglaublich viel ausgerichtet haben. Freilich kommt hier sehr viel auf die Umstände und auf den Charakter der Zuhörer an. Wo die Umstände selbst schon eine Gährung in den Gemütern verursacht haben, wo die Einbildungskraft bereits erhitzt ist und wo man es mit einer Versammlung zu tun hat, die gewohnt ist sich mehr durch sinnliche Eindrücke als durch Vorstellungen der Vernunft leiten zu lassen, da braucht es eben nicht viel, in den Gemütern das heftigste Feuer anzuzünden. Rührende Reden für solche Gelegenheiten sind nicht mehr als Werke der Kunst anzusehen. Nur da, wo man es mit Männern zu tun hat, die nicht so, wie der Pöbel leicht aufzubringen sind, erfordert auch diese Art wahre Beredsamkeit.
Sie hat aber nur da statt, wo die Gegenstände, die die Leidenschaft hervorbringen sollen, klar genug am Tage liegen, dass der Verstand nicht mehr nötig hat, über die wahre Beschaffenheit der Sache unterrichtet zu werden, sondern nur die Empfindung stärker zu reizen ist. Da geht der Redner mit seinem Beispiel dem Zuhörer vor; er äußert auf mancherlei Weise das, was er selbst fühlt; er sucht das, was in seinem Gemüte vorgeht, auf die lebhafteste, rührendste Art an den Tag zu legen, Und hierbei tut nun der Vortrag selbst die größte Wirkung. Der Redner muss in Stimm und Gebärden das, was er empfindet, so lebhaft als durch die Worte selbst ausdrücken. Alsdann wird er seinen Zweck nicht leicht verfehlen.
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1 S. Rede.
2 S. Leidenschaft.
3 S. Lehrende Rede.