Maler
Maler. Die Leitung der Secession hat ein paar Kunstreferenten von der Vorbesichtigung der Frühjahrsausstellung ausgeschlossen. Und das ist gut. Von keinem vernünftigen Standpunkt aus wäre etwas dagegen einzuwenden. Selbst wenn die Kritiker nicht, wie die Leitung der Secession behauptet, »die Grenzen sachlicher Kunstkritik weit überschritten« hätten. Ich weiß nicht, ob es Sache der Beteiligten ist, dies zu beurteilen. Zugegeben, die Kritiken wären innerhalb jener Grenzen geblieben und die Secession könne einfach Tadel nicht verschmerzen. So hat sie recht gehandelt. Wer mich schlecht macht, den muß ich nicht in mein Haus laden. Keinem öffentlich Meinenden ist es verwehrt, sein Urteil abzugeben, wenn die Ausstellung für das Publikum geöffnet ist. Die Secession hat sich nicht das Recht angemaßt, zahlungswilligen Besuchern den Eintritt zu verwehren oder ein günstiges Urteil vorzuschreiben. Der Theaterdirektor aber, dessen Geschäft geschädigt wird, ist berechtigt, die Freikarten zu entziehen oder den Tadler vom Besuch der Generalprobe auszuschließen, und die Veranstalter einer Ausstellung, von der sie im vornhinein wissen, dass sie abfällige Kritik finden werde, sind nicht verpflichtet, einen Großmutsakt zu üben und dem Tadler die Vorbesichtigung zu gestatten. Die solidarische Verwahrung der Wiener Kunstkritiker gegen die Entziehung solcher Gunst ist eine stupide Anmaßung, vergleichbar dem Protest eines Hinausgeworfenen, der sich auf das Recht freier Meinungsäußerung beruft, weil der Hausherr nicht gewillt war, einen »sachlichen« Tadler seiner Speisen auszufüttern. Durchaus löblich ist der Mut der Secession, die den Protest mit der Erklärung erwidert, dass nicht zwei, sondern drei Kritiker ausgeschlossen worden seien. Überflüssig und vielleicht ungehörig bloß die Begründung des Beschlusses, die zwischen »sachlicher Kunstkritik« und »kritikloser Feindseligkeit« unterscheidet. Der Tadler der Speisen kann Recht haben oder das »Motiv« seines Tadels ein verdächtiges sein — das erst zu untersuchen, ist gar nicht Sache des Gastgebers, dessen klares Recht des Hinauswurfes schon beim »sachlichen«, in sich begründeten Tadel einsetzt. Wenn er ehrlich ist, wird er auch zugeben, dass ihn nicht das »Motiv«, sondern der Tadel geärgert hat. Welche Begriffsverwirrung aber in den Gehirnen der Preßleute platzgegriffen hat, zeigt der Eifer, mit dem sie darauf bestehen, gratis an dem Gastmahl teilzunehmen, an dem ihnen der Veranstalter — im Gegensatz zum privaten Hausherrn — den Platz gegen Bezahlung nicht weigern kann. Typisch sind die Erklärungen des 'Extrablatt'-Mannes. Der Ausschuß der Secession habe bewiesen, dass er »keine Ahnung davon hat, wie man sich der Kritik gegenüber zu verhalten habe«, dass er »von dem Verhältnis zwischen Künstlerverbänden und der Kritik ganz unrichtige Vorstellungen hat«. Was für ein Verhältnis denn? Das einzig legitime Verhältnis, das des Urteilenden zum Beurteilten, wird durch die Ausschließung von der Vorbesichtigung nicht berührt. Eher durch gegenseitige Gefälligkeit, also etwa durch die Erlaubnis der Vorbesichtigung. Wie der Mann selbst zugibt. Es sei, sagt er nämlich, »eine ganz irrige Anschauung, dass der Ausschuß den Kunstreferenten eine Höflichkeit zu erweisen glaubt, wenn er sie zu den Vorbesichtigungen einlädt«. Im Gegenteil: »es liegt ausschließlich im Interesse der veranstaltenden Künstlervereine, wenn die Kunstreferenten das Publikum durch Vorberichte über die zumeist noch recht unfertigen Ausstellungen auf die Eröffnungstage aufmerksam machen.« Es wird also geschwindelt und um der Reklame willen ein Urteil gefällt, das eigentlich noch nicht gefällt werden kann. Vorbesichtigung — Vorurteil. Der Kritiker ist, so sollte man glauben, bloß den Lesern verpflichtet, bloß zwischen ihm und dem Publikum hat ein »Verhältnis« zu bestehen. Mit urwüchsiger Naivetät gesteht aber der Kritiker ein, dass er sich seiner Pflichten gegenüber dem Kritisierten bewußt ist, dass Kritik eine Gefälligkeitssache ist. Dem Publikum dient sie nicht. Wörtlich: »Entfallen die Vorbesichtigungen der Secession und damit die Vorberichte, so wird das Publikum dies den Kunstreferenten ganz gewiß und umso leicnter verzeihen, als man die Sensationen, welche die Secession in der letzten Zeit gebracht hat, wirklich erwarten kann und für die Kunstfreunde nichts verloren geht, wenn sie zwei oder drei Tage später davon erfahren, was eben ausgestellt ist«. Hier wird die Schlange so bissig, dass sie sich selbst in den Schwanz beißt. Das Publikum verzichtet auf den Vorbericht, die Kritik dient lediglich den Ausstellern — auf die das Publikum durch den Vorbericht aufmerksam gemacht wird. Es ist toll. Aber der Kunstkritiker argwöhnt, die Secession wolle ihm das Recht freier Kritik nehmen, und rät ihr, ihre Ausstellungen »bei geschlossenen Türen zu ihrem Privatvergnügen zu veranstalten«. Das sind Übertreibungen. Die Secession hat ausschließlich ihren Willen kundgegeben, die »Vorbesichtigung« bei geschlossenen Türen zu ihrem Privatvergnügen zu veranstalten, vor der Eröffnung der Ausstellung niemand hineinzulassen, dessen Gesicht ihr nicht gefällt. Leider noch nicht den Willen, auch nach der Eröffnung der Ausstellung nur gegen Entrée schimpfen zu lassen. Wer kauft, darf schimpfen. Aber dass die Veranstalter schon am Firnistag die Lackierten sein müssen, kann man nicht verlangen. Man weiß nicht, ob es Methode oder Begriffsverwirrung ist, in die Öffentlichkeit hinauszuschreien, die Secession habe es auf das Mundtotmachen der Kritik abgesehen. Die Secession denkt nicht daran, die staatsgrundgesetzlich gewährleistete Meinungsfreiheit anzutasten, und händigt dem Publikum, dem heimlich und dem öffentlich meinenden, Privatleuten und Journalisten, mit der Eintrittskarte das Recht auf Kritik ein. Dem 'Extrablatt'-Mann genügt das nicht. »Die richtige Antwort«, schreibt er, »wäre es unseres Erachtens, wenn die Kritik übereinkommen würde, über die Veranstaltungen der Secession so lange nichts zu berichten, bis sich der hochverehrliche Ausschuß wieder erinnert hat, dass es genau so ein Recht zum Kritisieren wie zum Veranstalten von Ausstellungen gibt.« Wenn die Kritik übereinkommen »würde« — in diesem falschen Konditionalsatz liegt die ganze »Würde« der Wiener Kritik. Sie droht. Ein schöneres Bekenntnis der Geringschätzung, die die Presse für ihre Mission hat, habe ich bis heute nicht gelesen. Kritik ist Gefälligkeitssache. Kunstkritik ist Gefälligkeit gegen das Sekretariat, wie Ausstellen Gefälligkeit gegen die Kunstkritik ist. Das »Recht« zum Kritisieren wird erst geltend gemacht, wenn das Gefälligkeitsverhältnis gekündigt ist. Der andere Teil hat bloß sein Recht zum Veranstalten von — Vorbesichtigungen betont. Immerhin, die »Gefälligkeit« hat aufgehört, und so verkünden die Kritiker ihre Absicht, Kunstwerke von nun an nicht mehr zu besprechen. Nicht das Talent, die Höflichkeit entscheidet, ist Gegenstand kunstkritischer Befrachtung. Das Publikum ist vollständig ausgeschaltet. Es wird nie mehr erfahren, was in der bildenden Kunst vorgeht. Da die Presse nicht mehr dem Sekretariat gefällig sein kann, stellt sie die Kritik ein. Wenn in Wien der Michelangelo einen Reporter nicht grüßt, gibt's keine Renaissance.
Nr. 200, VII. Jahr
3. April 1906.