Ehrliche Sucher


Leser. Die Wiener Feuilletonistik ist in größter Erregung. Ich habe in der letzten Zeit ein paar Mal angedeutet, dass sie »an« die Gesetze der deutschen Grammatik zu vergessen pflegt. Sie hat mit dem ihr eigenen Spürsinn sofort erfaßt, dass ich vor allem auf die Mängel der Konstruktion jener Sätze hinweisen wollte, in denen das Wort »vergessen« vorkommt. Nun hat sie ja gewiß den besten Willen, kann mir aber mit Recht verwerfen, dass ich ihr nicht mit positiven Ratschlägen an die Hand gehe. Wie ehrlich der Eifer ist, das Richtige zu treffen, beweist die letzte »Ploderei« des ›Fremdenblatts‹, in der der Verfasser alle Methoden des Vergessens versucht. Er schreibt: »Weil kein Regisseur an dieses hohe Symbol vergessen hat«, »der über seine zweifelhafte Mission die wichtigsten Geschäfte vergißt« und »ein Phänomen, auf welches Direktor Schlenther nicht vergessen hatte«. Dicht hintereinander. Eine Konstruktion, denkt er, muß die richtige sein! .. Aber hat der Verfasser wirklich alle Möglichkeiten erschöpft? Das Pferd kann doch bekanntlich auch »über dem springen, dass es ist gekitzelt worden«. Ja, die Wiener Feuilletonistik ist auf der Suche nach der richtigen Methode, zu beweisen, dass sie die Sprachregeln nicht vergessen hat. Aber ich helfe ihr nicht, nein, ich helfe ihr nicht!

 

 

Nr. 214-215, VIII. Jahr

22. Dezember 1906.


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