Die 10 guten Bücher


Bücherfreund. »Geehrter Herr Kraus! Wie immer Sie meine Rundfrage beurteilen wollen, sie Ihren Lesern im falschen Lichte darzustellen, kann durchaus nicht Ihre Absicht sein. Das aber tun Sie, wenn Sie mir imputieren, ich hätte um die 10 ›besten‹ Bücher gefragt, indem Sie von Arthur Schnitzler voraussetzen, er hätte mir 10 ›beste‹ Bücher genannt. Wenn Sie mein, seinerzeit auch an Sie gerichtetes Schreiben in Erinnerung haben, so werden Sie wissen, dass ich ausdrücklich betonte, ich wolle nicht etwa 100 oder 10 ›beste‹ Bücher genannt wissen, ich wolle mich nicht des Rückfalls in den abgeschmackten Snobismus schuldig machen, der seinerzeit von Amerika aus Listen von ›100 besten Büchern‹ in die Welt sandte; sondern was ich wollte, ist dies: von hervorragenden Männern der Kunst, der Literatur, der Politik, der Industrie und der Öffentlichkeit überhaupt die Nennung von 10 guten Büchern, aufs Geratewohl aus dem Ärmel geschüttelt, erbitten, von 10 Büchern, die ihnen lieb sind, die sie mit Genuß gelesen haben und denen sie daher Verbreitung unter den Gebildeten wünschen. Also keine vergleichende Wertung, sondern ein ganz unverbindliches Mitteilen, unverbindlich vor Allem in dem Sinne, dass der Betreffende nicht etwa noch 90, ihm eben so liebe Bücher nennen könnte. Sie haben meiner Einladung nicht Folge geleistet und schon dadurch bekundet, dass Ihnen die Sache nicht sympathisch ist. Aber sollte es wirklich so wenig nützlich sein, die Leute auf gute Bücher aufmerksam zu machen, denen das Glück der großen Trommel noch nicht geworden ist und die doch wert sind, bekannt und gelesen zu werden? Genehmigen Sie den Ausdruck meiner Hochachtung, mit welcher ich zeichne …« So schreibt mir der Veranstalter jener Rundfrage, deren Resultat ich kürzlich eine Orgie des Snobismus genannt habe. Ich bin so gutherzig, seine Zuschrift abzudrucken, um ihm jetzt auch noch versichern zu können, dass er die Tragkraft seiner Idee überschätzt. Die Version der »zehn besten Bücher« hatte ich in den Auszügen der Tagespresse gefunden. Hätte ich den Wortlaut der Aufforderung, die ich mich nicht erinnere erhalten zu haben, im Kopf gehabt, ich wäre zu keiner andern Formulierung gekommen. Wer aufgefordert wird, zehn gute Bücher zu nennen, wird natürlich jene zehn Bücher nennen, die er für die besten hält — oder zu halten vorgibt —, und den Snob möchte ich kennen, der außer den fünf Büchern Mosis die verlangte Serie »aufs Geratewohl aus dem Ärmel schütteln« könnte und nicht vielmehr in angestrengtem Nachdenken sich die Verantwortung vorhielte, vor der aufhorchenden Welt eine Geschmacksprüfung zu bestehen. Natürlich wird der exotische Klang eines Namens mehr als die erkannte Qualität eines Werkes die Antwort des Kandidaten bestimmen. Welche Verlockung für die Preziösen! »Lafcadio Hearn« ist eine Trouvaille! Herr v. Hofmannsthal hat mit einem längeren Artikel zugegriffen. Und es ist ja recht hübsch, ihn in einer Verbindung Goethescher und lateinischer Prosa sich vervollkommnen zu sehen: »Brief an den Buchhändler Hugo Heller. (Klingts nicht aus einem Weimarer Posthorn?) Geehrter Herr! Ich wüßte nicht, wie man seinen Beifall dem versagen sollte, was Sie sich vorsetzen und in Ihrer Zuschrift mir entwickeln. Dass der Buchhändler eben noch nichts Rechtes ist, wenn er sichs genug sein läßt, ein Händler mit Büchern zu sein, ist in älteren und neueren Zeitläufen ausgesprochen worden und lebt wohl als eine rechte Standeswahrheit und Überlieferung unter den Tüchtigsten Ihrer Berufsverwandten.« Aber Herr v. Hofmannsthal war gewiß wie kein anderer berechtigt, die Frage nach den zehn Büchern zu beantworten. Er ist ja einer der feinsten Leser, die es in der deutschen Literatur gegenwärtig gibt. Und gesteht selbst: »Ich bin, wie jeder, vielen Büchern vieles und einigen fast alles schuldig, was ich geistig besitze«. Nun, ich könnte mir auch einen großen Lyriker denken, der wiederum so ehrlich wäre zu bekennen, dass er Büchern gar nichts verdanke, dass er Bücher überhaupt nicht lese. Hätte ich die Anfrage erhalten, ich hätte die zehn schlechtesten Bücher genannt und geschrieben, dass sie mir als Erfüllung des eigentlichen Lesezwecks, als Unterhaltung des Pöbels, gerade empfehlenswert schienen. Die zehn guten Bücher aber hätten die Verfasser für sich selbst geschrieben. Und was dazwischen liegt, sei die Langeweile. Oder es sei so geartet, dass ein Leser mit eigenem Hirn an jedem Satze selbsttätig fortarbeite, bis er an dem Wettlauf der mittelbaren und der unmittelbaren Eindrücke ermüde. So ergehe es mir zum Beispiel mit der meisten Epik, neben deren rein mechanischer Lektüre eine so intensive Vorstellungsarbeit sich entwickle, dass mir regelmäßig schon nach den ersten Seiten der Schlaf das Buch aus der Hand nimmt. Zehn Bücher, die mich in wachem Zustande unterkriegen, könne ich nicht »aufs Geratewohl aus dem Ärmel schütteln«. Die Odyssee und Milton’s Verlorenes Paradies seien nicht darunter, auch nicht Thomas a Kempis und Spee’s Trutznachtigall, nicht einmal die Gedichte des Grafen Rudolf Hoyos. Vielleicht aber eines (das keiner der Befragten nennt): Edgar Poe’s Skizzen.

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


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