Das Deutschmeisterdenkmal
Deutschmeister. Wien, die Stadt der regsten Verkehrsstockung, sucht der reichsdeutschen Hauptstadt jetzt wenigstens in der ästhetischen Verschandelung gleichzukommen. Falscher Ehrgeiz! Die Berliner Siegesallee stört einen ganz und gar nicht, wenn man sie in einem Automobiltaxameter passiert, aber grauenvoll ist der Anblick des mythologischen Stearinwunders vor dem Wiener Parlament, auf einer Einspännerfahrt genossen. Und neuestens muß man um die Rossauer Kaserne einen weiten Bogen machen, wenn man in den neunten Bezirk gelangen will; denn dort steht ein Deutschmeisterdenkmal, vor dem die Komfortablepferde scheuen und das zur Erinnerung an den schlechten Geschmack der Wiener Kunstpflege zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden ist. Ein militärisches Denkmal also. Weil ich mich in solchen Fällen öfter zur Devise: »Den Meißel nieder!« bekenne, gebe ich gern der Kritik Raum, die ein bekannter Friedensfreund an dem Werk des Herrn Professors Benk übt. Sie ist, wiewohl sie die ästhetische Seite der Katastrophe unberücksichtigt läßt, durchaus zutreffend, und ich kann sie nach Ausscheidung einzelner Stellen, in denen mir die militaristische Phrase durch die antimilitaristische bekämpft schien, verantworten, ohne in den Verdacht zu kommen, dem »Verein der Friedensfreunde« anzugehören. Herr Alfred H. Fried schreibt mir: »Die Österreicher haben wenig Sinn für militärische Romantik. Man kann das am besten beobachten, wenn man die öffentlichen Denkmäler Wiens mit denen Berlins vergleicht. Während in der Hauptstadt des deutschen Reiches die öffentlich zur Schau gestellten Marmor- und Bronzemassen in erster Linie für die Soldaten bestimmt erscheinen, finden wir in Wien höchstens ein halbes Dutzend ›bewaffneter‹ Denkmäler. Man kann dies auch beobachten, wenn man die Schaufenster der Bilderhandlungen in Berlin und Wien miteinander vergleicht. Jene sind voll militärischer Sujets, voll Porträts uniformierter Persönlichkeiten, während man in den Fenstern der Wiener Bilderläden zwischen Schauspielern und Schauspielerinnen äußerst selten eine militärische Darstellung oder ein Soldatenporträt sieht. Nunmehr scheint es, als ob der Geschmack ›Guillaume deux‹ auch an der Donau in Schwang kommen, als ob die militärische Romantik, die das Charakteristische dieses Geschmacks ist, auch hier Fuß fassen sollte. Man hat hier kürzlich unter Salutschüssen, Fahnenwehen und Ansprachen ein Deutschmeister-Denkmal enthüllt, und ein Hesser-Denkmal, für das durch eine Lotterie Stimmung gemacht wird, steht uns bevor. Man kann gar nicht wissen, wie weit diese neue Richtung noch führen kann. Es gibt über hundert Regimenter und sehr viel freie Plätze in den verschiedenen Städten der Monarchie. Auch gibt es genug Dummköpfe, die in der Hoffnung auf einen Lotteriegewinn gern ihr Schärflein zur Errichtung weiterer Regimentsdenkmäler beitragen würden. Es erscheint daher angebracht, gegen den Geist, der solche Denkmäler errichtet, rechtzeitig sozusagen ›Front zu machen‹, ein ernstes Wort gegen jenen Phrasengeist zu richten, zu dessen Verherrlichung derlei öffentliche Schaustellungen dienen sollen. Solange der Militarismus seinen Kult in geschlossenen Kasernenhöfen oder auf entlegenen Exerzierplätzen übt, kann man es schließlich vermeiden, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sobald er aber die Verkehrswege kreuzt, müssen seine Heiligtümer sich eine Kritik gefallen lassen. So wird man untersuchen müssen, ob dieses Denkmal vor dem Tore der Rossauerkaserne etwas anderes als eine Phrase verkörpert. Man sagt freilich, es verherrliche die Taten eines Regimentes, das seit Jahrhunderten für das Vaterland geblutet und gekämpft hat. Aber nur der in geistiger Inzucht umnebelte Geist des Militarismus vermag in einem Regiment ein einheitliches Wesen zu erblicken, das handeln und wirken kann und die Jahrhunderte überdauert. Ein Regiment ist nichts anderes als eine Gruppe lebender Menschen, die zum Zweck der Verwaltung eine gemeinsame Nummer bekommen haben und zum Zweck der besseren Aktion eine bestimmte Farbe auf den Rock genäht erhalten. Das Gros dieser Menschen scheidet im Zeitraume von drei Jahren aus der Gruppe aus und andere neue Menschen treten an Stelle der Scheidenden. Die Minderheit der Kommandierenden bleibt etwas länger bei der Gruppe. Immerhin scheiden auch sie nach einer Reihe von Jahren aus. Die Unteroffiziere gehen in die Zivilversorgung, die Offiziere in Pension, und schließlich unterliegen alle Mitglieder dieser Gruppe den allgemeinen menschlichen Gesetzen, indem sie das Zeitliche segnen. Die Nummer und die Rockfarbe bleibt. Sie bleibt hundert Jahre und länger. Aber von den Menschen, die einmal durch diese Nummer und Farbe von anderen unterschieden wurden, bleibt keine Spur. Nur eine erdabgewandte Romantik vermag aus den verbleibenden Äußerlichkeiten eine Einheit zu schaffen, deren Jahre man zählt, deren Geschichte man schreibt, deren Taten man dauernd den jeweiligen Zugehörigen der Gruppe zum Ruhme anrechnet. Diese erdabgewandte Romantik schafft dann auch Regimentsdenkmäler, in denen die Ehre dieser fiktiven Einheit in Stein und Erz verherrlicht und die zufällige Tat irgend eines Individuums, das zu jener Gruppennummer gehörte und dieselben Rockaufschläge trug, als die Tat jenes fiktiven Wesens gepriesen wird. Mit demselben Rechte, mit dem man die Einheit und Zusammengehörigkeit eines Regimentes konstruiert, ja mit noch größerem Recht könnte man aus den Bewohnern eines Hauses eine historische und biologische Einheit konstruieren. Die Bewohner eines Hauses stehen zu diesem in einem ganz anderen Verhältnis als die Soldaten zu ihrem Regiment. Das Haus ist der Schauplatz von Lebensschicksalen. Jugend, Liebe, Krankheit, Erfolg, Tod — dies alles spielt sich in den Räumen ab, die die Menschen in einem bestimmten Hause gemietet haben. Es ist das Leben selbst, das uns mit den Mauern in Verbindung bringt, und diese Mauern sind doch schließlich etwas Greifbareres, als die Nummer oder die Farbe eines Regimentes. Warum setzt man denn nicht den Bewohnern des Wiedener Freihauses oder des Schottenhofes oder des Heiligenkreuzerhofes Denkmäler? Aus ihnen kann man dieselben historischen ›Einheiten‹ konstruieren, wie aus dem Wiener ›Hausregiment‹. Sie haben ebenso wie dieses Jahrhunderte gesehen … Diese Fiktion der ewig lebenden Einheit eines Regimentes, in der Gestalt eines Wesens mit einem Hirn, aber mit 2000 Armen und 2000 Füßen, entspringt der militaristischen Anschauung, dass es in der Armee keine Individualitäten gebe. Der einzelne läßt seine Individualität in dem Sack zurück, in dem er seine Zivilmontur verpackt. Sie wird aufbewahrt, bis zu dem Tage, da der Automat wieder als Individuum in die bürgerliche Welt tritt. Diese Grundanschauung der militärischen Romantik wird aber durch die Kriegswissenschaft widerlegt. Man weiß heute schon — und die letzten Kriege haben es bewiesen —, dass die Stärke einer Armee in der Selbständigkeit und Bildung ihrer Moleküle, in der Denkfähigkeit und Geistesgegenwart des einzelnen Mannes liegt. Die Schulmeister von Königgrätz und Mukden werden als die modernen Sieger bezeichnet. Das beweist also, dass die Fiktion, der Soldat müsse Automat, Bestandteil einer Maschinerie sein, hinfällig ist. Und so ist denn das Deutschmeisterdenkmal auch im rein militärtechnischen Sinne eine Lüge. — Aber noch in manch anderer Beziehung ist dieses Denkmal Lüge aus Erz und Stein. Es geht von der Voraussetzung aus, dass die Atome des fingierten Lebewesens, in diesem Falle des Regimentes Hoch und Deutschmeister, freiwillige und frohe Mitglieder jener Gruppe seien, deren Nummer ihnen angeheftet wurde, und dass sie sich während ihrer Dienstzeit und lange über diese hinaus mit Stolz und Freude als Gruppenangehörige fühlen. Für die geringe Zahl der Berufssoldaten soll dies nicht bestritten werden, obwohl auch hier noch einige Zweifel zu äußern wären. Was aber die große Masse der Regimentsangehörigen betrifft, so gehört doch ein ungeheurer Mut dazu, mit solcher Lüge auf den offenen Markt zu gehen. Seitdem das Waffenhandwerk allgemeine Bürgerpflicht geworden ist, geht es doch nicht mehr an, über die inneren Vorgänge in diesem Berufe Geheimnisse zu bewahren. Die Armee ist keine geheime Gesellschaft. Durch sie gehen alle, fast alle Bürger. Die wissen genau, wie es darin aussieht und was es mit der Berufsfreudigkeit des Soldaten für eine Bewandtnis hat. Der Bürger betrachtet seine in der Kaserne verbrachten Jahre im günstigsten Falle als eine erfüllte Pflicht, niemals als eine freudig erfüllte; niemals als eine Zeit, nach der er sich zurücksehnt, fast immer als eine verlorene. Der Veteranen-Jubel vermag das Gegenteil nicht zu beweisen. Der beweist höchstens die Wahrheit der Rückert’schen Verse: ›Das ist’s, was an der Menschenbrust mich oftmals läßt verzagen, dass sie den Kummer wie die Lust vergißt in wenigen Tagen.‹ Er beweist nur, dass Interesse und die Sucht, etwas zu gelten, bei den Menschen stärker sind, als Konsequenz und vor allen Dingen stärker als das Vorstellungsvermögen. Tatsache ist, dass es für den aktiven Soldaten in allen Armeen nur einen Gedanken gibt, der in der täglich wiederholten bangen Frage gipfelt: ›Wie lange haben wir noch?‹ Der moderne Soldat betrachtet sich während seiner Dienstzeit als das Opfer einer Knechtschaft, die er lieber heute als morgen überwunden haben möchte, und gerade in Anerkennung dieser Tatsache ist die allgemeine Wehrpflicht erfunden worden, weil man auf eine Erfüllung des Dienstes durch Freiwillige nicht in ausreichendem Maße rechnen konnte. Der jubelnde Fahnenträger auf der Spitze des Deutschmeisterdenkmals ist daher eine schreiende Lüge, eine verlogene Phrase mehr. Ein Mann, der an einem Abreißkalender die Tage seiner Dienstzeit zählt, entspräche sicherlich besser der Wahrheit!« … »Die Wochen fangt wieder guat an«, sagte — nach einem Berichte der ›Arbeiter-Zeitung‹ — kürzlich ein Deutschmeister auf der Schmelz, nachdem er die folgende Ansprache vernommen hatte: »Füaß außer aus’n Bauch! Schädl in d’Höh’! I hau da dö Zunga durch, Krüppel ölendig’s! Ausbleib’n über d’Zeit, dös vasteht’s, ös Pülcher! Aber aufmarschier’n könnt’s net. Saubanda! In Stan sitz’n bessere Leut’, als ös seid’s. Halblinks! Marsch!«
Nr. 212, VIII. Jahr
23. November 1906.