Die Aphorismen eines Chirurgen


Patient. Ich glaube nicht, dass es zuträglich sein kann, wenn Sie nach der Operation, die der Chirurg Gersuny mit gutem Gelingen an Ihnen vorgenommen hat, seine Aphorismen lesen. Mit Knochensplittern weiß der Herr Professor doch besser zu hantieren, als mit Gedankensplittern, von denen sich jeder einzelne in seiner Behandlung als ein Kunstfehler darstellt. Die Schmockpresse, die uns mit den Gersuny’schen Aphorismen seit Jahr und Tag langweilt und jetzt deren Buchausgabe feiert, nennt diese Sammlung von Kunstfehlern eines zerstreuten Arztes »Gedankenperlen«. Schrecklich! Was Herr Professor Gersuny außerhalb der Chirurgie uns zu sagen hat, ist fast so unbedeutend wie die Aphorismen, die der alte Jurist Unger bei besonders festlicher Gelegenheit in die ›Neue Freue Presse‹ legt. Was sollen diese ein- und zweizeiligen Desavouierungen der Weisheit des Alters? Man braucht schon ziemlich viel Narkose, um Aussprüche des Professors Gersuny schmerzlos zu überstehen, die so originell sind wie der folgende, den ich in einer »Auslese« finde: »Nimm von einem Sandhaufen ein Korn; was ist dadurch geändert? Suche ein gleiches, du findest es nicht. Ein Mensch ist dahin; der Menschheit fehlt er nicht, und doch ist er unersetzlich, denn jeder ist einzig.« Eine Erkenntnis, die noch immer einen Chirurgen zur Vorsicht beim Operieren, aber längst keinen Aphoristen mehr zur Aussprache nötigen müßte. Oder: »Das Bekritzeln der Wände mit dem eigenen Namen ist ein sehr bescheidenes Streben nach Unsterblichkeit.« Und das Publizieren von Aphorismen, wenn man’s nicht nötig hat? Fällt es Herrn Masaidek ein, sich plötzlich als Operateur zu versuchen? Oder: »Die sogenannten Naturgesetze sind gar keine Gesetze, sondern nur Aphorismen zum Naturerkennen«. Aber vielleicht sind auch die sogenannten Aphorismen gar keine Aphorismen?

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


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