Osterhase


Osterhase. Die Feiertagsbäuche der Inseratenpresse platzen. 'Neues Wiener Tagblatt' 152, 'Neue Freie Presse' 144 Seiten. Davon bietet natürlich der geringste Teil den geistigen Mazzes. Trotzdem ist die Ration noch immer enorm. Blätter, die sich an gewöhnlichen Sonntagen mit den Herren Pötzl und Müller-Guttenbrunn oder mit den Herren Auernheimer und Sil Vara bescheiden, protzen auf einmal mit dem Teuersten — sagen wir »Ausgefallensten« —, was die europäische Geistigkeit bietet. Da bleibt kein englischer Staatsmann unbelästigt, und neben dem Ethiker Paulsen, der im Hauptorgan für Sexualannoncen eine unerlaubt öde Kapuzinade gegen die Unsittlichkeit des — Pastors Frenssen loslassen darf, fleht Paul Heyse lyrisch »Nur einmal noch!« Alle Meinungen haben Platz. Wenn nur ein »Name« darunter steht. Die katholischen Feste bringen die große Kokottenparade der Wiener Journalistik. Rückwärts das unerhörte Aufgebot der zahlungsfähigen Kunden, vorn die geputzte Schar der literarischen, akademischen und politischen Strizzis, die sie sich selbst bezahlt ... Neidvoll schauen die schlichten christlichsozialen Straßenmädchen den Aufzug, sie, die sich um Ostern aller fleischlichen Genüsse enthalten müssen. Die Festnummer der 'Deutschen Zeitung' bringt nur geistige Fastenspeise. Da sind sie wieder, die wackeren Christel, Vogl, Guido List, Hörmann und Frimberger! Einer dichtet — im Jahre 1906 — : »Weanerwaldliader — Klingan mi an — Wann i so wander' —, Tramat mei Bahn.« »Tramat« — das klingt doch anders als die Lyrik der Mombert, Dehmel, Stefan George! Da »steckt« noch Poesie drin ... Es ist etwas Merkwürdiges um den Kontrast zwischen der liberalen und der christlichsozialen Zeitungskultur. Man würde glauben, dass dem Rothschild der Papst gegenübertritt, aber unter allgemeiner Spannung erscheint ein Magistratsdiener. Man würde glauben, dass London und Rom ihre Kräfte messen, aber dem liberalen Weltgetriebe entrückt, findet man sich plötzlich in Kagran.

 

 

Nr. 201, VIII. Jahr

19. April 1906.


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