Habitué


Habitué. Ich sprach neulich von jenem anarchistischen Vogel im Käfig der Sozialdemokratie, der gern ins Land des bürgerlichen Tantièmenerwerbs fliegt. Herr Stefan Großmann also hat sein »dankbares Nachwort« zur Vorstellung der »Lustigen Weiber von Windsor« nunmehr doch erscheinen lassen. Der rote Druckfehlerteufel hat darin die Frau Fluth in eine sozialpolitische Frau Fürth verwandelt. (Er kam damit einer Intention des Fräuleins Galafrés entgegen.) Das macht aber nichts. Herr Stefan Großmann findet, dass Wiens kitschigste Bühne Aussicht habe, »sein literarisches Theater« zu werden. Herr Weisse, der Theatraliker, der allen modern-literarischen Anfechtungen mit Fassung und »Würda« begegnet, hat bekanntlich am Beginne seiner Direktionstätigkeit einem Interviewer erklärt, dass er Stücke, die ein proletarisches Milieu behandeln, von vornherein ausschließen werde. Wahrscheinlich hat das Stück, das er dem Kritiker der 'Arbeiter-Zeitung' abnahm, kein proletarisches Milieu behandelt. Es wurde mir vor der Nase abgesetzt und so kam ich um das Vergnügen, es kennen zu lernen. Sei dem wie immer — die Privatmeinungen und die Privatstimmungen des Herrn st. g. sind uninteressant. Wünschenswert wäre nur, dass ein Theaterkritiker im Sachlichen Bescheid wisse oder dass er wenigstens in jenen theatergeschichtlichen Dingen bewandert sei, über die er gerade schreibt. Nicht die leiseste Ahnung von der Schauspielerei zu haben, ist verzeihlich. Dass aber ein Kritiker auch ohne die geringste Erfahrung im Tatsächlichen über den Stand der Shakespearedarstellung auf deutschen Bühnen schreibt, ist eine arge Überhebung. Weder die Volkstheaterdirektion noch seine Leser haben Herrn Großmann gezwungen, sein dankbares Nachwort zur »Lustigen Weiber«-Vorstellung mit einer Wehklage darüber einzuleiten, dass auf deutschen Theatern »der heroische Shakespeare ehrfurchtsvoll umgangen« und bloß seine Lustspiele gespielt werden. Herr Großmann kennt offenbar nur jene Theater, die seine eigene Produktion nicht ehrfurchtsvoll umgehen: die der Herren Jarno und Weisse. »Keine deutsche Bühne«, schreibt er wörtlich, »hat sich seit Emmerich Roberts Tod an Shakespeares hochsinnigstes Drama, den Coriolan', gewagt. Seit dem Tode der Wolter hat das deutsche Theater keine Lady Macbeth gesehen. Fehlt es doch sogar an Othellos, und Sonnenthals Lear hat auf deutschen Bühnen fast keinen Rivalen ... Um einen neuen Coriolan wäre uns ein halbes Dutzend Neuinszenierungen Shakespearescher Possen feil«. Herr Großmann scheint doch unwissender zu sein als erlaubt ist. Er ist durchaus nicht verpflichtet, vom Königlichen Schauspielhause in Berlin etwas zu wissen. Wenn *er aber nichts davon weiß, so dürfte er deshalb doch nicht behaupten, dass es nicht besteht. Wollte er eine zeitlang das Repertoire jenes Hoftheaters in einem Berliner Blatt nachlesen, so könnte er entdecken, dass auf der einen Bühne der heroische Shakespeare dreimal in derselben Woche zum Wort kommt, in der das Burgtheater Fulda, Philippi und Triesch spielt. Er würde erfahren, dass ein gewisser Adalbert Matkowsky den Coriolan, den Macbeth, den Othello spielt. Und den Marc Anton, Richard II. und den Bastard im »König Johann« dazu. Sonnenthals Lear — die Tragödie wird überhaupt seltener gegeben — hat auf deutschen Bühnen nicht bloß »fast«, sondern wirklich keinen Rivalen. Vorläufig nämlich hat Matkowsky den Lear noch nicht gespielt. Aber sein Othello, das weiß ich, ist das unerhörteste Erlebnis, das heute auf einer deutschen Bühne geboten werden kann. Seinen Coriolan kenne ich leider nicht. Emmerich Robert, den edelsten Künstler, in Ehren — was bedeutete er, was bedeuten alle Burgtheaterheroen gegenüber der Urkraft dieses Einzigen! Und doch hätte Matkowsky nirgendwohin besser getaugt als ins Burgtheater, er, der einzig ebenbürtige Gegenspieler der Wolter. Er hat einst, da unser Krastel sich beim Sprechen den Arm verrenkt hatte, als Orestes bei einem Gastspiel seiner Kollegin Poppe ausgeholfen. Man war an solches Toben entfesselter Elemente im Burgtheater nicht mehr gewöhnt und lehnte den Riesen ab. Wiewohl er mit polnischem Akzent sprach, dem Geist des »Hauses der Dialekte« also nicht mißfallen konnte. Nun erleben wir seit so vielen Jahren den Skandal, dass die sogenannte erste deutsche Bühne, die jeden bürgerlichen Charakter dutzendfach besetzen kann, keinen Heldendarsteller hat. In Berlin, wo die kleinen Chargenmacher den Snob begeistern, erfriert Matkowsky's vulkanisches Temperament, genährt von der Andacht eines kleinen Stammpublikums, in einem Hause, an dem sich das »literarische« Berlin hochmütig vorbeientwickelt. München hat Herrn Lützenkirchen, in Frankfurt ward eben jetzt Coriolan mit Herrn Kirch neu inszeniert, und jedes kleine deutsche Hoftheater kann Othello und Macbeth in anständiger Aufführung herausbringen. Das Burgtheater ist nicht so glücklich. Dort ist Herr Kainz nervös und Herr Reimers dekorativ. Wer einem vollendeten Zungenjongleur und Exzentrik-Tragiker inneres Pathos glaubt, ist ja beneidenswert. Aber die Shakespeareschen Kraftmenschen wird man der dünnen Persönlichkeit des Herrn Kainz im Ernst nicht zumuten. Und Herr Reimers, der schmucke Soloherr, hat sich aus der klassischen Dichtung, der er bloß als Herold, nicht als Heros dienen kann, mit Recht in ein bequemes Naturburschentum zurückgezogen, aus dem ihn leider hin und wieder der Ruf nach einem Egmont und Posa hervorlockt. Das Burgtheater hat sich in Frau Bleibtreu eine Heroine gezüchtet, die — ein Wunder — auf kaltem Wege fast bis zu den Höhen tragischer Wirkung gelangt ist. Dass ihre geistige Technik auch imstande sein würde, ihr einen ebenbürtigen Partner zu schaffen, konnte selbst eine Direktion des Burgtheaters, deren Amt es ist, auf das Wunderbare zu warten, nicht erträumen. Es ist die Ehrfurcht der Indolenz, die den heroischen Shakespeare in Wien umgeht. »Seit dem Tode der Wolter hat das deutsche Theater keine Lady Macbeth gesehen«. Herr Großmann meint nicht etwa: keine große Lady Macbeth, sondern überhaupt keine. Aber Macbeth ist ein Repertoirestück des Berliner Hoftheaters, und so tief Frau Poppe unter einer Wolter steht, so hoch steht Matkowsky über allen Macbeths, die seit dem Abgang jener historischen Größen, deren Bedeutung heute nur mehr die zwanzigjährigen Kritikjünglinge kontrollieren können, auf dem Burgtheater gestanden sind. Und so begeisternd wirkt dieser Künstler, dass ein Berliner Essayist, Julius Bab, in einer Monographie (Gose & Tetzlaff, Berlin) schreiben konnte: »Matkowsky ist der Schauspieler Shakespeares ... Es ist eine strömende Harmonie, ein brausendes Ineinandergehen aller Kräfte in diesem Mann, der, wenn man will, ganz uneigenartig und nichts andres ist als eine ungeheure Verkörperung des Typus 'Mensch'. Matkowsky ist unindividuell — wie Shakespeare ... Er ist Shakespeare kongenial, soweit ein Schauspieler einem Dichter überhaupt kongenial sein kann ... Wo Shakespeare das ganz Lebendige ist, der große Künstler, dessen Lebensspürsinn noch aus furchtbarsten Untergängen den Jubel der donnernd hinrollenden Notwendigkeit heraushört - da ist Matkowsky ihm ganz Gefährte und vermag ihm zu folgen, Schritt vor Schritt. Wie aus dem Mittelpunkt der Erde schleudert er das Feuer der Leidenschaft hoch und trägt zugleich mit offenen Händen alle liebliche Heiterkeit und sanft reifende Trauer der Welt: 'Der Vesuv, an dessen Abhängen die lacrymae Christi wachsen' — so benannte mir einmal ein Freund diesen Mann und seine Kunst.« Und der Kritiker eines großen Wiener Journals, der übrigens Mitarbeiter jener Berliner Revue ist, in der die Charakteristik Matkowskys zuerst gedruckt wurde, klagt, dass es auf dem deutschen Theater keinen Coriolan, keinen Othello, keinen Macbeth mehr gebe! Man könnte eher behaupten, dass es vor Matkowsky keine gegeben hat... Die Spezialität des Theaterkritikers, der außer dem Theater, über das er schreibt, kein anderes gesehen hat, wird immer häufiger. Man würde verlacht, wollte man fordern, dass ein Mensch, der über Schauspielerei öffentlich urteilt, so gut wie der Bilderkritiker eine Studienreise hinter sich haben müsse. Aber Herr Großmann begnügt sich nicht damit, außer den Theatern der Stadt, die das Glück hat, seine Urteilskraft zu genießen, keine anderen zu kennen, seine Ignoranz dient ihm geradezu als vergleichender Maßstab. Und so ist es möglich, dass er die Schauspieler Shakespeares beurteilt, ohne den Schauspieler Shakespeares zu kennen. Ich sah den Unvergleichlichen zuletzt als Bastard im »König Johann« — Herr Harden, der Bestinformierte, vermißt dies Stück im Repertoire des Hoftheaters — und als Richard II. Ich fand ihn seltsam gedämpft. Ein Vulkan, der seinen Ausbruch reguliert und Schlacken vermeidet. Es wäre kein Wunder, wenn der isolierte Riese sich vom Berliner Natürlichkeitsschwindel für ein Weilchen hätte imponieren lassen. Hoffentlich rast er wieder in alter Zügellosigkeit und verachtet das Urteil jener Theaternivelleure, die dem Löwen vorwerfen, dass er »brülle«. Weil die Enthaltsamkeit der Eunuchen unter einer tüchtigen Regie als Tugend der Keuschheit wirkt, deshalb muß sich noch niemand kastrieren lassen ... Der Wiener Hoftheaterbehörde aber sollte kein materielles Opfer zu schmerzlich, keine Rücksicht auf ersessenen Rollenbesitz zu heilig sein, um endlich Matkowsky und mit ihm wieder den großen Stil tragischer Schauspielkunst zu gewinnen, der in der traurigen Verbürgerlichung der »Burg« verloren gegangen ist.

 

 

Nr. 200, VII. Jahr

3. April 1906.


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