Die bedenklichen Schwestern


Dem Polizeipräsidenten. Was ist’s mit den beiden »ausgewiesenen Schauspielerinnen«? Ist der Tatbestand endlich gefunden? Seit Wochen kein »neues Stadium«, in das die Affäre getreten ist! Wir wünschen, dass der Schmach ein Ende gemacht werde! Traurig genug, dass sich die offizielle Sittlichkeit jetzt sogar schon von Herrn Pötzl beschämen lassen muß. Der schrieb ein paar Tage nach dem Erscheinen der Nr. 212 der ›Fackel‹ ein Feuilleton, das die folgenden ganz richtigen Bemerkungen enthielt: »Unserer Sittlichkeit fehlt es eben an dem großen Zuge. Wir erschöpfen uns in kleinen Sittlichkeiten, gewöhnlich am unrechten Orte. Das haben jetzt zu ihrem Schaden die zwei aus Hamburg zugereisten Frauenzimmer erfahren, die durch ihre auffällige Kleidung den Hausbesorger auf den Gedanken brachten, es könnte an den beiden sittlich etwas nicht in Ordnung sein. Und richtig, sie hatten sich falsch gemeldet, mit französischen Namen und als Schauspielerinnen, die sie nicht sind. Drei Tage Arrest und Ausweisung. Schön. Die Falschmeldung wird eben in Österreich bestraft. Es ist wegen der Abschreckung. Jeder große Verbrecher, etwa ein Mörder oder Millionendieb, soll die unbequeme Empfindung haben, dass er sich auf der Flucht vor den polizeilichen Nachstellungen nie einen falschen Namen beilegen darf, sonst kann er ein paar Tage, sogar ein paar Wochen Arrest bekommen. Alle unsicheren Kantonisten fürchten das ungemein und melden sich daher unter vollem Namen und Charakter. Die beiden falschen Französinnen haben gegen diese weise Bestimmung gesündigt und mußten es büßen. Sie sitzen aber noch immer in Polizeihaft, also schon einige Wochen länger als ihre Strafe ausmachte. Und warum? Sie sind auch keine Schwestern, als welche sie sich ausgaben. Man denke nur: sie sind keine Schwestern, kein verwandtschaftliches Band verknüpft diese beiden zugereisten Fräulein, die das ästhetisch gebildete Auge des Hausmeisters durch ihre auffällige Kleidung verletzt und Herrenbesuche empfangen haben! Wenn sie aber keine Schwestern sind, was sind sie denn? Weibspersonen, die fälschlich behaupten, Schwestern zu sein, sind offenbar zu allem fähig. Darum wird recherchiert und einstweilen eine Haft verhängt, die zu dem zärtlichen Berufe dieser Sünderinnen doch außer jedem Verhältnisse steht. Anstatt sie an die Grenze zu bringen und laufen zu lassen, müssen sie weiß Gott wie lang noch sitzen, bis schließlich zur Evidenz festgestellt sein wird, dass sie in Frankreich oder England ganz das nämliche verbrochen haben, aber nicht weiter beachtet wurden, weil man sich dort nennen darf wie man will und sogar den fälschlichen Titel Schwester annehmen darf, wenn man das einzige Kind seiner Eltern ist.« Will sich die offizielle Sittlichkeit wirklich von Herrn Pötzl beschämen lassen? Wir wünschen ein Ende!

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


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