I. [Der Übergang von der utilitarischen zu der objektiven und der absoluten Wertung des Menschen]
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Allein diese ökonomische Betrachtungsart ist nicht die geltende. Tatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung der Lebenswerte auf der Idee, daß der Mensch einen absoluten Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller besonderen Kräfte und Äußerungen seines empirischen Wesens steht eben »der Mensch«, als etwas einheitliches und unteilbares, dessen Wert überhaupt nicht mit irgendeinem quantitativen Maßstab gewogen und deshalb auch nicht mit einem bloßen Mehr oder Weniger eines anderen Wertes aufgewogen werden kann. Das ist der Grundgedanke, der das ideelle Fundament des Blutgeldes wie der Sklaverei verneint, weil diese den ganzen und absoluten Menschen in ein Gleichungsverhältnis mit einem relativen und bloß quantitativ bestimmbaren Werte, dem Geld, bringen. Daß es zu dieser Aufgipfelung des Menschenwertes kam, ist wie gesagt dem Christentum gutzuschreiben, dessen Gesinnung freilich einerseits in mancherlei Ansätzen antizipiert worden ist, wie die historische Entwicklung dieser Konsequenz andrerseits lange auf sich warten ließ; denn die Kirche hat die Sklaverei keineswegs so energisch bekämpft, wie sie wohl verpflichtet gewesen wäre, und hat (allerdings um des öffentlichen Friedens willen und um Blutvergießen zu vermeiden) die Sühnung des Mordes durch Wergeld geradezu gefordert. Daß dennoch die Enthebung des Menschenwertes aus jeder bloßen Relation, jeder nur quantitativ bestimmten Reihe in der Denkrichtung des Christentums liegt, hängt so zusammen. Was jede höhere Kultur von den niederen scheidet, ist sowohl die Vielfachheit wie die Länge der teleologischen Reihen. Die Bedürfnisse des rohen Menschen sind gering an Zahl, und wenn sie überhaupt erreicht werden, gelingt es durch eine relativ kurze Kette von Mitteln. Steigende Kultur vermehrt nicht nur die Wünsche und Bestrebungen der Menschen, sondern sie führt den Aufbau der Mittel zu jedem einzelnen dieser Zwecke immer höher, und fordert schon für das bloße Mittel oft einen vielgliedrigen Mechanismus ineinandergreifender Vorbedingungen. Auf Grund dieses Verhältnisses wird sich die abstrakte Vorstellung von Zweck und Mittel erst in einer höheren Kultur erheben; erst in ihr wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln - die Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Vernunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu kommt, daß das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren jedem er nur einen geringen Teil beherrschen, ja übersehen kann, und daß so gegenüber der Einfachheit primitiven Daseins eine beängstigende Differenziertheit der Lebenselemente entsteht; der Gedanke eines Endzwecks, in dem alles dies wieder seine Versöhnung fände, dessen es aber bei undifferenzierten Verhältnissen und Menschen gar nicht bedarf, steht als Frieden und Erlösung in der Zersplitterung und dem fragmentarischen Charakter der Kultur. Und mit je weiteren qualitativen Differenzen die Elemente der Existenz auseinanderliegen, in desto abstrakterer Höhe über jedem muß ersichtlich der Endzweck stehen, der das Leben als Einheit zu empfinden ermöglicht; nach dem die Sehnsucht nun keineswegs immer in bewußter Formulierung zu bestehen braucht, sondern auch, nicht weniger stark, als ein dumpfer Trieb, Sehnsucht, Unbefriedigtheit der Massen. Am Beginn unserer Zeitrechnung war offenbar die griechisch- römische Kultur auf diesen Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und langsichtiges Zweckgewebe geworden, daß sich als sein Destillat und focus imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob; wo liegt nun der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluß, der sich nicht mehr, wie alles, was wir sonst erstreben, schließlich als bloßes Mittel enthüllt? Der resignierte oder grollende Pessimismus jener Zeit, ihr besinnungsloses Genießen, das freilich in seinem Augenblicksdasein einen nicht über sich hinausfragenden Zweck fand, auf der einen Seite, ihre mystisch-asketischen Tendenzen auf der anderen - sie sind der Ausdruck jenes dunklen Suchens nach einem abschließenden Sinn des Lebens, jener Angst um den Endzweck der ganzen Mannigfaltigkeit und Mühsal seines Apparates von Mitteln. Diesem Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung. Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes. Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unscheinbarste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Bedeutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück, so war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schicksal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage allem bloß Relativen, jedem bloßen Mehr oder Weniger der Würdigung enthoben. Nun hat freilich der Endzweck, an den das Christentum den absoluten Wert der Seele band, eine eigentümliche Entwicklung erfahren. Wie nämlich jedes Bedürfnis durch die Gewohnheit seiner Befriedigung fester wird, so hat das Christentum durch das so lange andauernde Bewußtsein eines absoluten Endzweckes das Bedürfnis danach außerordentlich fest einwurzeln lassen, so daß es denjenigen Seelen, denen gegenüber es jetzt versagt, das leere Sehnen nach einem definitiven Zweck des ganzen Daseins als seine Erbschaft hinterlassen hat: das Bedürfnis hat seine Erfüllung überlebt. Indem die Schopenhauersche Metaphysik als die Substanz des Daseins den Willen verkündete - der notwendig unerfüllt bleiben muß, weil er, als das Absolute, nichts außer sich hat, an dem er sich befriedige, sondern immer und überall nur sich selbst ergreifen kann - ist sie ausschließlich der Ausdruck dieser Lage der Kultur, die das heftigste Bedürfnis nach einem absoluten Endzweck überkommen, aber dessen überzeugenden Inhalt verloren hat. Die Schwächung des religiösen Empfindens und gleichzeitig das so lebhaft wiedererwachte Bedürfnis nach einem solchen sind das Korrelat der Tatsache, daß dem modernen Menschen der Endzweck abhanden gekommen ist. Aber was dessen Vorstellung für die Wertung der Menschenseele geleistet hat, ist nicht zugleich verloren gegangen und zählt zu den Aktiven jener Erbschaft. Indem das Christentum die Menschenseele für das Gefäß der göttlichen Gnade erklärte, wurde sie für alle irdischen Maßstäbe völlig inkommensurabel und blieb es; und so fern und fremd diese Bestimmung eigentlich für den empirischen Menschen mit seinen irdischen Schicksalen ist, so wenig kann doch eine Rückwirkung ihrer da ausbleiben, wo der ganze Mensch in Frage steht; sein einzelnes Schicksal mag gleichgültig sein, die absolute Summe derselben kann es doch nicht bleiben. In unmittelbarer Weise hat freilich schon das jüdische Gesetz die religiöse Bedeutung des Menschen gegen seinen Verkauf als Sklaven aufgerufen. Wenn ein Israelit sich wegen Verarmung einem Stammesgenossen in die Sklaverei verkaufen muß, so soll dieser - so befiehlt Jahve - ihn wie einen Lohnarbeiter halten und nicht wie einen Sklaven, »denn meine Knechte sind sie, die ich aus Ägypten weggeführt habe, sie dürfen nicht verkauft werden, wie man Sklaven verkauft«.
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