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III. [Die Höhenunterschiede der Arbeit als Quantitätsunterschiede]

 

Tatsächlich ist diese Deutung nicht so unzulänglich, wie sie zuerst scheint. Man muß nur den Begriff der Arbeit weit genug fassen. Betrachtet man die Arbeit zunächst in der Beschränkung auf ihren individuellen Träger, so liegt auf der Hand, daß in jedem irgend »höheren« Arbeitsprodukt keineswegs nur diejenige Arbeitssumme investiert ist, die unmittelbar auf eben diese Leistung verwendet worden ist. Die ganzen vorhergegangenen Mühen vielmehr, ohne die die jetzige, relativ leichtere Herstellung unmöglich wäre, müssen in sie, als für sie erforderliche Arbeit, pro rata eingerechnet werden. Gewiß ist die »Arbeit« des Musikvirtuosen an einem Konzertabend oft im Verhältnis zu ihrer ökonomischen und idealen Einschätzung eine geringe; ganz anders aber steht es, wenn man die Mühen und die Dauer der Vorbereitung als Bedingung der unmittelbaren Leistung dem Arbeitsquantum derselben hinzurechnet. Und so bedeutet auch in unzähligen anderen Fällen höhere Arbeit eine Form von mehr Arbeit; nur daß diese nicht in der sinnlichen Wahrnehmbarkeit momentaner Anstrengung, sondern in der Kondensation und Aufspeicherung vorangegangener und die jetzige Leistung bedingender Anstrengungen gelegen ist: in der spielenden Leichtigkeit, mit der der Meister seine Aufgaben löst, kann unendlich viel mehr Arbeitsmühe verkörpert sein, als in dem Schweiß, den der Stümper schon um eines sehr viel niederen Ergebnisses willen vergießen muß. Nun aber kann diese Deutung der Qualitätsunterschiede der Arbeit als quantitativer sich über die bloß persönlichen Vorbedingungen hinauserstrecken. Denn diese reichen offenbar nicht aus, um diejenigen Eigenschaften der Arbeit in der angegebenen Weise zu reduzieren, die ihre Höhe durch eine angeborene Begabung oder durch die Gunst dargebotener objektiver Vorbedingungen gewinnen. Hier muß man sich einer Vererbungshypothese bedienen, die freilich hier wie überall, wo sie insbesondere erworbene Eigenschaften einbezieht, nur eine ganz allgemeine Denkmöglichkeit darbietet. Wollen wir die verbreitete Erklärung des Instinkts akzeptieren, daß er aus den aufgehäuften Erfahrungen der Vorfahren besteht, die zu bestimmten zweckmäßigen Nerven- und Muskelkoordinationen geführt haben und in dieser Form den Nachkommen vererbt sind, derart, daß bei diesen die zweckmäßige Bewegung auf den entsprechenden Nervenreiz hin rein mechanisch und ohne eigener Erfahrung und Einübung zu bedürfen, erfolgt - wenn wir dies akzeptieren wollen, so kann man die angeborene spezielle Begabung als einen besonders günstigen Fall des Instinkts betrachten. Nämlich als denjenigen, in dem die Summierung solcher physisch verdichteten Erfahrungen ganz besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen Lagerung der Elemente erfolgt ist, daß schon der leisesten Anregung ein fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäßiger Funktionen antwortet. Daß das Genie so viel weniger zu lernen braucht, wie der gewöhnliche Mensch zu der gleichartigen Leistung, daß es Dinge weiß, die es nicht erfahren hat - dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hinzuweisen. Wenn man die hiermit angedeutete Vererbungsreihe weit genug zurückgliedert und sich klar macht, daß alle Erfahrungen und Fertigkeiten innerhalb derselben nur durch wirkliches Arbeiten und Ausüben gewonnen und weitergebildet werden konnten, so erscheint auch die individuelle Besonderheit der genialen Leistung als das kondensierte Resultat der Arbeit von Generationen. Der besonders »begabte« Mensch wäre demnach derjenige, in dem ein Maximum von Arbeit seiner Vorfahren in latenter und zur Weiterverwertung disponierter Form aufgehäuft ist; so daß der höhere Wert, den die Arbeit eines solchen durch ihre Qualität besitzt, im letzten Grunde auch auf ein quantitatives Mehr von Arbeit zurückgeht, das er freilich nicht persönlich zu leisten brauchte, sondern dem er nur durch die Eigenart seiner Organisation das Weiterwirken ermöglicht. Die Leistung wäre dann, die gleiche aktuelle Arbeitsmühe der Subjekte vorausgesetzt, in dem Maße eine verschieden hohe, in dem die Struktur ihres psychisch-physischen Systems eine verschieden große und mit verschiedener Leichtigkeit wirkende Summe erarbeiteter Erfahrungen und Geschicklichkeiten der Vorfahren in sich birgt. Und wenn man die Wertgröße der Leistungen, statt durch das Quantum der erforderlichen Arbeit, in der gleichen Tendenz durch die zu ihrer Herstellung »gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« ausgedrückt hat, so entzieht sich auch dies nicht der gleichen Deutung: der höhere Wert der durch besondere Begabung getragenen Leistungen bedeutete dann, daß die Gesellschaft immer eine gewisse längere Zeit hindurch leben und wirken muß, ehe sie wieder ein Genie hervorbringt; sie braucht den längeren Zeitraum, der den Wert der Leistung bedingt, in diesem Falle nicht zu deren unmittelbarer Produktion, sondern zur Produktion der - eben nur in relativ längeren Zwischenräumen auftretenden - Produzenten solcher Leistungen.

 


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