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Dezember 1912

Nachwort

Blendwerk der Hölle! — was ist das? Was ist, habe ich erfunden. Jetzt rächt es sich und äfft mich nach. Seitdem der Nordpol entdeckt wurde, geht es mir so. Ich machte Witze und siehe, am nächsten Tag waren es Depeschen. Ich mußte die Satire aufreißen und zu ihr hinzutun, daß es keine mehr sei. Da wird man nicht fertig. Man glaubt mir schon nicht, wenn ich zitiere. Jetzt wird, was ich erfinde, wahr. Diese große Presse ist nicht mehr nur ein Abdruck der Weltfratze, sie ist auch die Satire dazu und macht diese darum zuschanden. Die Satire konnte dem Leben keuchend nicht mehr nachkommen — jetzt jagt das Leben hinter der Satire einher. Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß. Gibt es ein untrüglicheres Zeichen dafür, daß es mit diesem Planeten zu Ende geht? Wie der Knockabout lebt er von der Verkehrung der Kausalität: er läßt dem Echo das Geräusch folgen, der Satire den Bericht. Nachdem ich »Harakiri« geschrieben hatte, las ich irgendwo den Artikel eines gewissen Ular. Es war das furchtbare Bekenntnis einer Jargonseele, die hochdeutsch sprach und darüber Beschwerde führte, daß Nogis Tat nicht einmal ein richtiges Harakiri gewesen sei, nur die eitle Markierung eines solchen: »Pflanz!« Was ich aus einem Feuilleton herausmauscheln gehört und ergänzt, fast geschaffen hatte, hörte ich jetzt erst in äußerlich korrekter Rede wie aus einem Schalltrichter des Kommerzgeistes. Man würde aber nicht glauben, daß »Harakiri«, später erschienen, vor jenem Artikel entstanden sei. Stellte ich diesen neben die Satire, man würde glauben, ich hätte den Autor um das Manuskript gebeten oder er mich um das meine oder was weiß ich. Später wiederholte ein Vertreter der blonden Jugend die Sätze, die ich einem Juden in den Mund erfunden hatte. Das wird jetzt immer toller werden. In »Heimkehr der Sieger« habe ich die umfänglich zitierte Realität mit sich selbst sprechen lassen, las hierauf das Manuskript vor und glaubte, nun könne nichts mehr hinzukommen. Alle Greuel hatten ihren Platz gefunden, wenige hatte ich erfunden, und neue werde der Balkan nicht mehr tragen. Was kam hinzu? Nichts Neues, aber eben das, was ich erfunden hatte. Der furchtbarere der beiden Ajaxe hatte mit einem gefangenen Türken gesprochen — ich übertrieb die journalistische Zudringlichkeit bis zu der unsagbaren Möglichkeit, daß es auch ein verwundeter Türke wäre und der Arzt den Notverband von den Wunden nähme, um sie dem Reporter zu zeigen. Kaum hatte ich’s vorgelesen, erschien als der Gipfel jener Berichterstattung, durch die zum erstenmal der Versuch gewagt wurde, den unmittelbaren Jargon druckfähig zu machen, ein Bericht, der es nachholte. Das Leben will nicht, daß der Witz etwas vor ihm voraushabe, und die Neue Freie Presse läßt sich nicht nachsagen, daß sie eine Nachricht nicht habe, die schon in der Fackel steht. Ein Arzt, natürlich aus Wien, half dem Landsmann und zeigte ihm die Wunden:

In den Hospitälern Sophias.

Ganz weit draußen vor der Stadt, in der Ebene, aus der wie aus einem Guß der Vitoscha in die Wolken emporsteigt, erhebt sich ein Gebäudekomplex .... Es war, wie wenn die Bulgaren ganz daran vergessen hätten, daß es auch verwundete Soldaten gäbe .... So kämpfte die Königin seit Jahren mit dem Kriegsministerium um die Einführung der kleinen Verbandpäckchen .... Aber so brach der arme Teufel auf dem Schlachtfeld zusammen und hatte oft nichts, mit dem er seine Wunde verbinden konnte Kurz, solch ein Geller richtet den Mann her, so daß die Ärzte oft ihre ganze Kunst zusammen nehmen müssen, um ihn wieder zusammenzuflicken .... Die Fäulnis bei lebendigem Leibe! .... Als er ins Spital kam, stanken seine Wunden so, daß einem Regimentsarzt, der doch gewiß nicht an allzu sensiblen Nerven leiden dürfte, schlecht wurde. Und bei Professor Colmers sah ich einen Mann, bei dessen Anblick beinahe mir schlecht wurde .... Bei vielen muß der Arzt erbittert mit dem Tode ringen .... Behutsam tritt der Arzt an sein Bett. Er spricht nicht zu ihm, rührt ihn nicht an. »Ich hoff, ich bring’ ihn durch.« Das ist alles, was er sagt. Im Nebensaale liegt einer, dem ein Schrapnellstück die ganze Hüfte weggerissen .... Und der Doktor greift in sein Portemonnaie und holte das verhängnisvolle Stück heraus, das er sich aufgehoben. Ein formloses Stück Blei ist es, kaum größer als der Daumennagel .... »Ich hoff’, ich bring’ ihn durch,« sagte der Doktor .... Mancher wimmelte nur so von Ungeziefer .... Man muß nur diese Damen der Sofioter Gesellschaft sehen, wie sie die armen Burschen hegen und pflegen, wie sie ihnen die Wünsche an den Augen abzulesen versuchen. Es ist keine leichte Aufgabe, zwischen so viel Elend und Schmerz auszuharren, sich an die furchtbaren Verstümmelungen zu gewöhnen, die man da zu sehen bekommt. Aber es ist etwas eigenes um die Frau. Dort, wo oft die Energie des Mannes versagt, wo er sich schaudernd abwendet, findet sie, die Schwache, die Sensible, die Kraft, nicht nur zu bleiben, sondern zuerst helfend zuzugreifen und nachher tröstend zu hegen .... Die Wunde war schrecklich, das Blut tropfte und tropfte — und neben dem Bett stand eine schöne blonde Frau, angetan mit weißem Spitalskittel, und reichte dem Arzt in die Hand, was er brauchte, — Instrumente, Watte — kurz vorher hatte ich dieselbe Frau in ihrem Salon gesehen, als grande dame — — die Gräfin Tarnowska war es, die Frau des österreichischen Gesandten .... Und weil ich schon einmal dabei bin, möchte ich auch noch unseren hiesigen Legationsrat Baron Mittag nennen .... Wir Österreicher kranken alle an einer falschen Bescheidenheit. Wenn darum einmal Landsleute von uns im Auslande etwas leisten und uns Ehre machen wie diese schöne blonde Gesandtenfrau, wie der unermüdliche Legationsrat, wie der prächtige Doktor v. Frisch .... — warum soll man sie nicht nennen? ....

Ernst Klein.

Hier war noch viel, was ich nicht hatte erfinden können. Nun war wieder ich neidig auf die Realität und nahm ihr dies und das für den Text weg, der schon im Druck war. Das Unentbehrlichste hat sich noch einbetten lassen. Ich mußte es tun. Ich lasse mich wieder von der Wirklichkeit nicht beschämen ... Und dennoch, sie ist besser als ich. In dieser Welt, die aus Nennern und Zählern besteht, würde der Bericht schon stärker sein als die Satire, wenn er ihr pflichtgemäß voranginge. Er ist ja doch stärker als die Realität selbst, es gibt keine andere außer der seinen, es gibt nur noch die, die er erschafft. Wir zählen nur, wenn die Nenner uns nennen. Sie haben uns dividiert. Die Welt ist nur ein Bruch, ein gemeiner Bruch. Der Bericht ist die Realität, und darum muß auch die Satire vom Bericht beschämt werden. Sie hat nichts mehr zu tun, als jenen, die nur lesen, aber noch nicht sehen, den Bericht übersichtlich zu machen. Ihre höchste Stilleistung ist die graphische Anordnung. Die erfindende Satire hat hienieden nichts mehr zu suchen. Es gibt nichts zu erfinden. Was noch nicht da ist, kommt morgen. Abwarten! Wenn die Satire sich übernimmt, wenn sie ungeduldig wird und glaubt, in dieser übervollen Wirklichkeit noch etwas ausfüllen zu müssen, so geschieht ihr recht, wenn die Wirklichkeit ihr über den Kopf wächst und mit jenem satanischen Ausdruck, dessen die Satire nie fähig wäre, ihr ins Ohr lacht: Guck guck! Bin schon da!

Juli 1915

Und weil, was seit damals geschah, Zitat und Verzerrung von damals millionenfach übertreibt, so bin ich der Versuchung nicht ausgewichen, an einem Punkt jene verruchte Stimme zu steigern und ihr den Ton zu geben, mit dem sie heute, sich, ihre Schuld und ihren Triumph überschreiend, in Chaos und Brand der Welt ihre furchtbaren Monologe ruft. Was hier dem Mißlaut der Zeit abgehört war, wird umso deutlicher zu dem, was es war: zum schüchternen Vorwort des unendlichen Grauens, aus dem wie aus dem Schalltrichter der Hölle als unverlierbarer Lebenston die Stimme des Herrn, die Stimme des Siegers dringt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 366/367, XIV. Jahr
Wien, 11. Januar 1913.